Zärtlichkeit und Wut – ein sexuelles Erwachen wider alle Erwartungen
Die französische Serie „About Sasha“ erzählt mit großer Leichtigkeit von einem schwierigen Neubeginn
Eine 17-Jährige kommt an einer neuen Schule an. Sie findet sich inmitten bestehender Freund- und Feindschaften wieder, blickt auf sexuelle Begehrlichkeiten und zarte, ernsthafte Gefühle; alte und neue. Sasha – geplagt von Flashbacks eines gewaltsamen Übergriffs in der alten Schule – sucht ihren Platz; Pauline, die kleine, nicht weniger verwirrte und orientierungslose Schwester stets an ihrer Seite. Beide finden Freundinnen und Freunde – und teilen ein Geheimnis.
Was wie ein konventionelles Coming-of-Age-Drama klingt, ist in dieser zehnteiligen französischen Serie die überraschende und berührende Geschichte eines intersexuellen Teenagers, der als Junge aufwuchs und plötzlich mit einer Realität konfrontiert wird, die ihm seine verunsicherten Eltern lange vorenthielten. Le sexe, c’est quoi? Sasha wagt einen Neubeginn als weiblich gelesene Person. Doch von der neuen Identität trennt sie viel mehr als nur die angleichende Operation. Hier liegt die große Stärke der Serie: Sie verhandelt das komplizierte Ankommen und Experimentieren, Sashas vorsichtige und wagemutige Emanzipation auf allen Ebenen. Alles gerät ins Rutschen, auch in der zugewandten, herzenswarmen Geschwisterbeziehung, wenn der große Bruder zur großen Schwester wird und die bemühten Eltern zunehmend unter Druck geraten und auseinander driften. Drehbuchautorin und Co-Regisseurin Yaël Langmann verknüpft in klugen Montagen und Ellipsen alte Wunden und neues Verliebtsein, die feindseligen SMS-Attacken eines Stalkers und die Nähe und Vertrautheit in der emotional fordernden, bunt zusammengewürfelten Clique. So sind sie alle alles zugleich, verführerisch und boshaft und unsicher; sie provozieren, testen Grenzen aus, geben sich mal cool, mal aggressiv und verhalten sich ebenso oft kindlich. Der Ton ist schroff, die Sprache vulgär und rau.
Trailer About Sasha (Unifrance, 22.11.2022)
Zugleich werden verbaler Kampfgeist und theatralische Übertreibung der Jugendlichen als Strategien der Selbstbehauptung und der Suche nach Anerkennung und Zugehörigkeit offenbar. In einen eigentümlichen Schwebezustand versetzt Sashas Ankunft alle anderen, ein wenig wie die messianische Figur in Pasolinis Teorema 1968 alle Klassenunterschiede und Konventionen sprengte, durch seine magische, seine sexuelle Aura. Die Jungs und Mädchen in der Clique spüren, Sasha hat eine Vergangenheit, eine Geschichte. Etwas an ihr ist besonders, ist anders. Das fasziniert und verwirrt. Sie selbst ist ihrem Körper entfremdet, nach unzähligen „Reparaturen“ in ihrer Kindheit, im Sinne der damaligen Schulmedizin. Ein Körper, der sich nicht ohne weiteres der althergebrachten binären Logik erschließt. Den Sasha selbst lange als falsch, als unbrauchbar empfindet. Und der dennoch – oder gerade deshalb – in den Mittelpunkt des Kraftfeldes rückt, wo Körper sich anziehen und abstoßen, zur dröhnenden Clubmusik, wie kosmische Ereignisse.
Transformationsprozess in vielen Nuancen
Dabei wird in der besonderen Konstellation des Freundeskreises, und durch ständige überraschende Richtungswechsel und Plot-Twists, immer deutlicher, dass nicht nur Sasha, sondern sie alle mit existentiellen Sorgen und dem Erwachsenwerden zu kämpfen haben, sie alle im fragilen Netz der noch ungeklärten Beziehungen ihren Weg suchen. Dieser Transformationsprozess durchzieht die Serie in vielen Nuancen, in kleinen Gesten, Blicken, Nebensätzen, ein ständiger Wechsel von schmerzhaften und schönen Momenten. Sashas Körper, das Enigma ihrer Identität, in seiner vermeintlichen Außergewöhnlichkeit und in der herbeigesehnten Transition, wird dabei eher en passant erzählt: in rätselhaften, auch beunruhigenden Bildassoziationen, in den Szenen der Hormontherapie, im Kuscheln und Herumtollen mit der Schwester, in den Annäherungen derer, die sie berühren wollen, aber nicht dürfen. In ihrer Verletzlichkeit nach einer traumatischen Demütigung durch frühere Klassenkameraden; in ihrer verblüffenden Stärke, einer Körpersprache, die offen lässt, ob sie den ehemaligen selbstbewussten Jungen durchscheinen lässt oder die neue Person, die sich gerade findet.
Die Vieldeutigkeit unterläuft altmodische Rollenklischees, öffnet das Spielfeld in alle Richtungen. Sasha gerät in Zugzwang, als der scheinbar gewiefte Verführer Alex, später auch die forsche Anna ihr zu nahe kommen. Sie hat noch keine Form gefunden, ihre Situation zu erklären, will einfach sein, wer sie ist. Gefühlsausbrüche, Panikreaktionen, Wutanfälle sind die genretypischen Reflexe. Und dann wieder ein Stimmungswechsel: etwa, wenn die ganze Clique auf dem Bootssteg über Zukunftsträume philosophiert, über das Fortgehen oder das Bleiben, lachend, weinend, im Rausch der Gefühle – und der Drogen, die aber eher lähmen als die Stimmung heben; oder wenn die alsbald alleinerziehende Mutter mit den traurigen und zugleich streitlustigen Töchtern alte Familienrituale aufleben lässt und so ganz ausgelassen und ironisch Halt und Verständnis füreinander stiftet. Natürlich kommt auch für Sasha der Moment, ihre Gefühle in Worte zu fassen, das nebenbei in charmantester Weise sehr französisch. Mit der Sprache, einer sehr poetischen obendrein, mit ihrer neu gefundenen Stimme holt sie die anderen wieder ein, und überwindet ihre Isolation. So wirft die Serie auch die grundsätzliche Frage auf, worüber wir sprechen können, wie sich Wünsche und Ängste formulieren lassen, nicht nur unter Jugendlichen, und welche Herausforderungen jede Kommunikation bereithält, im Streit, in intimen Offenbarungen, in ganz verschiedenen Auseinandersetzungen, mit dem Vater, mit dem Arzt, der Therapeutin, der Lehrerin – aber auch welche Macht. Im besten Fall triumphiert die reiche Sprache über die stereotypen Bilder.
Jenseits von eindimensionalen Gut-Böse-Schemata
Yaël Langmann gelingt es, Konflikte, Sehnsucht und Intimität ineinander zu verweben und so die Nuancen des jugendlichen Empfindens ganz flüchtig und doch präzise, voller Mitgefühl nachvollziehbar zu machen – und das vor allem deshalb, weil sie die Figuren allesamt ernst nimmt. Im Mittelpunkt der Serie, die für das französische Fernsehen produziert wurde und nun über Disney+ im französischen Original mit Untertiteln zu sehen ist, steht zweifelsohne Sasha. Doch um dieses Zentrum herum gruppiert Langmann mit der gleichen Achtsamkeit alle anderen Figuren, die nicht weniger vielschichtig sind. Sorgsam vermieden sind Gut-Böse-Kontraste auf der Figurenebene, niemand agiert immer richtig oder falsch. Trotz einiger Zuspitzungen gelingt es so, dass man in den Entwicklungsprozess der Hauptfigur einsteigt, der dabei weder zwingend vorbildhaft noch jemals pädagogisch weisend wirkt. Es ist eben kompliziert, und dann am Ende ist doch so viel möglich, auch die Selbstbehauptung gegenüber den Erwachsenen, gegen alle Erwartungen, für die Jungen, für die Mädchen, für Sasha. Angèle Metzger spielt die charismatische Figur furios: spröde, trotzig, zugewandt beobachtend und zurückhaltend, unnachgiebig. Sie überschreitet den Horizont und erkennt „ich bin alles, ich bin endlos“.
Freigegeben ab …
Der FSF lagen drei der zehn Episoden zur Prüfung vor. Sie wurden für das Hauptabendprogramm (Ausstrahlung ab 20.00 Uhr), verbunden mit einer Altersfreigabe ab 12 Jahren freigegeben und vor allem mit Blick auf eine mögliche sozialethische Desorientierung kontrovers diskutiert. Insbesondere der anhaltende Alkoholkonsum, vor allem aber auch die lange intensive Szene, in der die Clique am See gemeinsam einen Joint raucht und sie anschließend halluzinogene Pillen einwerfen, wurde unterschiedlich beurteilt. Indes verbinden sich hier Unreife und Unsicherheit – für 12-Jährige durchaus erkennbar – mit dem Drogenkonsum, was eine hinreichende Distanzierungsmöglichkeit bietet und durch die ambivalenten Umstände zudem mehrfach gebrochen wird. Auch der Alkohol dominiert keineswegs das Leben der Jugendlichen, sondern ist vielmehr Bestandteil und wird nicht durchweg positiv präsentiert. Alle legalen und illegalen Rauschmittel – vom Mutantrinken mit Hochprozentigem vor einer Verführungsszene, die folgerichtig aus dem Ruder läuft, bis zum Tablettenkonsum der Mutter, der von den Töchtern bissig kommentiert wird – erweisen sich eher als Störfaktor für eine ansonsten sehr klare und treffsichere Kommunikation.
Die auffällig vulgäre Sprache der sympathischen, aber nicht unbedingt vorbildhaften Jugendlichen mag krass erscheinen, ist aber vor allem authentisch und durch die zugewandten Beziehungen eingehegt. Künstlerisch überhöhte, sexuell anzügliche Bilder eines Oktopus’ beim Geschlechtsverkehr mit einer Frau, die Sasha von einem Stalker aus ihrer Vergangenheit auf dem Handy empfängt, wohnt keinerlei aufreizende oder verstörende Wirkung inne. Sie erzeugen keinen Wissensdruck, zumal die Protagonistin nach anfänglicher Verunsicherung all die Bilder und Klischees, die – mal subtil, mal diskriminierend – auf ihre unbestimmte Sexualität hinweisen, in einem großartigen Befreiungsschlag, ebenso einleuchtend wie märchenhaft bezwingt. Jugendliche Identitätsfindung derart klug und vielstimmig mit einer intersexuellen Teenagerin im Zentrum zu verhandeln, ist großes Fernsehen, das auch und gerade ab 12-Jährige zum Nachdenken anregt und das die Utopie stärkt von einer Gemeinschaft, in der alle auf ihre Weise „anders“, nämlich sie selbst, sein können.
Bitte beachten Sie:
Bei den Altersfreigaben handelt es sich nicht um pädagogische Empfehlungen, sondern um die Angabe der Altersstufe, für die ein Programm nach Einschätzung der Prüferinnen und Prüfer keine entwicklungsbeeinträchtigenden Wirkungsrisiken mehr bedeutet.
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> Sendezeiten und Altersfreigaben
Hinweis:
Pay-TV-Anbieter oder Streamingdienste können eine Jugendschutzsperre aktivieren, die von den Zuschauer:innen mit der Eingabe einer Jugendschutz-PIN freigeschaltet werden muss. In dem Fall gelten nicht die üblichen Sendezeitbeschränkungen und Schnittauflagen. Weitere Informationen zu Vorschriften und Anforderungen an digitale Vorsperren als Alternative zur Vergabe von Sendezeitbeschränkungen sind im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (§ 5 Abs. 3 Nr. 1; § 9 Abs. 2 JMStV) sowie in der Jugendschutzsatzung der Landesmedienanstalten (§ 2 bis § 5 JSS) zu finden.
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> Jugendschutz bei Streamingdiensten
Jürgen Dünnwald (Foto: privat)
Dr. Stefanie Mathilde Frank (Foto: Susanne Müller)