Beautiful Brown Eyes
Die Miniserie „Roslund & Hellström: Cell 8“
Der Gebäudekomplex, dem sich die schwere amerikanische Limousine nähert, gleicht im Dauerregen einem internationalen Flughafen. Flachbauten, Drahtverhau, ein Turm ragt hoch in den schweren Himmel. Das Check-in für die Besucher:innen läuft wie vor dem Boarding ab. Taschen leeren, Handgepäck zum Röntgen in die Schale, Fragen vom aufmerksamen Bodenpersonal. Aber das Ziel, das man von diesem Ort aus ansteuert, ist kein Urlaubsparadies mit All–inklusive-Bar und Sonnenbräune bei der Rückkehr. Diese ist für einige der Bewohner:innen nämlich überhaupt nicht vorgesehen. Marcusville ist ein Gefängnis mit Todestrakt und nur die gläubigen Christen unter den Verurteilten heben nach der Vollstreckung in den grauen Himmel ab.
Mach’s gut, ich stehe hinter dir, sei stark, wir sehen uns auf der anderen Seite“,
rufen die mit dem orangenen Death-Row-T-Shirt dem Reisenden hinterher, der sich auf den letzten Weg zur Bahre macht, um rücklings mit ausgebreiteten Armen den Weg ins Jenseits anzutreten. Das Gesetz, vertreten durch Gouverneur Finnigan, drückt ihm einen Giftcocktail in die Vene.
Die Adaption eines Bestsellers von dem in Skandinavien sehr erfolgreichen Autorenduo Roslund & Hellström setzt vor allem auf suggestive Bildsprache und verzichtet auf Gewaltspitzen und lange Dialoge. Die strukturelle Gewalt in der Kriminalgeschichte mit Elementen eines Polit-Thrillers zum Thema Todesstrafe ist jedoch so allgegenwärtig, dass man beinahe ohnmächtig zuschaut: Der Sänger John ist „Cell 8“ und dem Tod vor 5 Jahren entflohen und lebt seitdem in Stockholm. Er liebt die Polizistin Mariana, die sich in ihn verliebt, als er Beautiful Brown Eyes singt. In ihren Interaktionen, die weitestgehend in Nahaufnahmen aufgelöst werden, kommen einem die Darsteller:innen Mimosa Willamo und Freddie Wise durch Mimik und Mikromimik so nah, dass man sie sich nicht mehr aus den Kleidern schütteln kann, dass man sie adoptiert hat, dass sie über den Rahmen der Fiktion weiter existieren.
Die überzeugende Liebesgeschichte bietet ein gelungenes Folio zur Auseinandersetzung mit dem Thema Todesstrafe. Man wird emotional abgeholt, um das Schlimmste durchzustehen und eine glasklare Haltung gegen die Todesstrafe einzunehmen – sie schlicht als Mord zu begreifen.
Trailer Roslund & Hellström: Cell 8 (Viaplay US, 16.03.2023)
John wünscht sich ein normales Leben. Für eine gemeinsame Katze zu sorgen. Durch einen kurzen Akt der Selbstgefälligkeit setzt er ein bürokratisches Uhrwerk in Gang, das ihr gemeinsames Leben revidiert. Mitten in einem Song geht er von der Bühne auf die Tanzfläche und schlägt, davon ausgehend sein subjektives Urteilsvermögen entspräche der einzig objektiven Wahrheit, einen übergriffigen Mann nieder. Er wird verhaftet und verliert seine Deckung. Schließlich wird er vom CIA entführt und landet mit Grüßen von Finnigan wieder in Cell 8. Mariana folgt ihm nach Amerika. Sie versucht, den Mord an Finnigans Tochter aufzuklären, für den John zum Tode verurteilt wurde, da sie ihn für unschuldig hält. Begnadigen kann ihn nur Finnigan, der ihn unbedingt sterben sehen will, wie schon viele andere Verurteilte vor ihm. Hilfe und Menschlichkeit bringen ihr nur Menschen entgegen, die nichts zu bestimmen haben.
Ihre Wohnzimmer, ob unter Dächern oder im Trailer-Park, strahlen deutlich mehr Würde aus als das Innere der Palladio-Villa des Gouverneurs. Der Sternenbanner baumelt schon im ersten Bild über dem Gefängnis. Finnigan hat zwei Stück davon an der Wand und einen auf dem Schreibtisch. Er weht an seiner Villa, flattert an jedem Haus und spiegelt sich sogar in einer Pfütze des Trailer-Parks. Am schlimmsten sind die Menschen, die ihn am Revers tragen. In der Serie symbolisiert er ein Land, in dem es immer regnet. In dem es Menschen zweiter Klasse gibt, die sich niemals Recht verschaffen können. Hochkant gestellt sind die Streifen wie Gitter. Säulen christlich kolorierter Selbstgefälligkeit, hinter denen die Mächtigen gottgleich und voller Blutlust ihre Untergebenen bewachen. Betend und trinkend hält sich Finnigan für den Vollstrecker von Gottes Werk.
Richard Lintern als Edward Finnigan und Sara Stewart als Alice Finnigan (Bild: © Viaplay)
Auch Mariana ist selbstgefällig. Sie urteilt subjektiv, weil sie ihrem Geliebten nicht schlicht vertraut und zur Flucht verhilft. Weil sie glaubt, Amerika und seine Klassenunterschiede zu verstehen, glaubt, mit europäischem Maß messen zu können und dass alles irgendwie wieder in Ordnung kommt. Zur Selbstgefälligkeit werden sogar die Zuschauenden verführt. Allzu leicht ist man bereit, ein Urteil zu fällen und dem Sänger und ehemaligen Kleinkriminellen John eine Teilschuld am Tod der Tochter Finnigans zu attestieren. Das liegt auch an einer irreführenden Rückblende, die eine Zehntelsekunde Erinnerung zeigt, die nicht zu Johns Leben gehört.
Gegengeschnitten mit Stationen des bürokratischen Monsters einer Hinrichtung, rollt Mariana mit Hilfe der Polizistin Mendez im spannenden Finale den Fall noch einmal auf. John schafft etwas, das wir alle versuchen und von dem Don Draper in Mad Men behauptet, er habe es erfunden, um Nylons zu verkaufen. John liebt. Er bekennt sich zur Liebe zu Mariana und seinem Vater. Mariana kämpft gegen den Sekundenzeiger der Digitaluhr am Armaturenbrett des Ford Mustang. Sie rast einem Payoff entgegen, das in den vorherigen Episoden nur sparsam geplantet ist. Es wird noch eine Weile dauern, bevor ich ohne unruhig zu werden den Minutenzeiger auf 14 Uhr springen sehen kann. Die Todesstunde, in der die Kolben heruntergedrückt werden und das Gift in die Venen der Verurteilten strömt.
Freigegeben ab …
Die genretypische skandinavische Krimiserie ist langsam und ruhig erzählt. In die Handlung eingebettet sind potenziell belastende Szenen bzw. punktuelle Gewaltspitzen, die nie besonders drastisch inszeniert sind und für die Altersgruppe der ab 12-Jährigen als verkraftbar bewertet wurden. Eine Übertragbarkeit oder Vorbildhaftigkeit von problematischen Verhaltensweisen wie Drogenkonsum oder Kriminalität wurde nicht gesehen. Die Polizistin Mariana dient als Identifikationsfigur, während John ambivalent bleibt. Das Thema Todesstrafe bietet einen Ankerpunkt innerhalb der Serie. Es wird hinreichend distanziert und kritisch eingebettet, so dass älteren Kindern und Jugendlichen eine Auseinandersetzung damit ermöglicht wird.
Bitte beachten Sie:
Bei den Altersfreigaben handelt es sich nicht um pädagogische Empfehlungen, sondern um die Angabe der Altersstufe, für die ein Programm nach Einschätzung der Prüferinnen und Prüfer keine entwicklungsbeeinträchtigenden Wirkungsrisiken mehr bedeutet.
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> Sendezeiten und Altersfreigaben
Hinweis:
Pay-TV-Anbieter oder Streamingdienste können eine Jugendschutzsperre aktivieren, die von den Zuschauer:innen mit der Eingabe einer Jugendschutz-PIN freigeschaltet werden muss. In dem Fall gelten nicht die üblichen Sendezeitbeschränkungen und Schnittauflagen. Weitere Informationen zu Vorschriften und Anforderungen an digitale Vorsperren als Alternative zur Vergabe von Sendezeitbeschränkungen sind im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (§ 5 Abs. 3 Nr. 1; § 9 Abs. 2 JMStV) sowie in der Jugendschutzsatzung der Landesmedienanstalten (§ 2 bis § 5 JSS) zu finden.
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> Jugendschutz bei Streamingdiensten