Befriedet euch!

Jenni Zylka

Jenni Zylka ist freie Autorin, Moderatorin und Filmkuratorin.

Während Königin Daenerys Targaryen in der siebten, aktuellen Staffel von Game of Thrones auf ihrem Drachen über das Schlachtfeld braust, kämpfen unten die Lannister-Männer gegen das Reitervolk der Dothraki. Blut spritzt aus durchgeschnittenen Hälsen, Körper werden von Speeren durchbohrt, sichelförmige Schwerter hacken Arme ab. Die HBO-Produktion Game of Thrones hat bei der diesjährigen „Primetime-Emmy-Award“-Verleihung zum dritten Mal einen Preis in der Rubrik „Outstanding Drama Series“ gewonnen, einen von insgesamt 255 unterschiedlichen Fernsehpreisen, die der Fantasyserie seit 2011 verliehen wurden.

Dieser Artikel erschien bereits in der „taz“ vom 27.10.2018 unter dem Titel „Woher kommt die Lust auf Gewalt?“

Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 1/2019 (Ausgabe 87), S. 62-66

Vollständiger Beitrag als:

Einige Game of Thrones-Folgen habe ich mehr als einmal gesehen: zunächst freiwillig, zu Hause, aus Jux und Interesse. Und dann im Rahmen von Programmprüfungen bei der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).

Mit Gewalt habe ich jedoch nicht nur bei der Arbeit als FSF-Prüferin, Filmjournalistin und Kuratorin zu tun. Reelle, nicht fiktionale, körperliche Gewalt erlebe ich, erleben wir alle täglich aus der Distanz. Über die Medien, etwa wenn Hunderte größtenteils männliche, junge Menschen Böller gegen das Haus des „Drachenlords“ in Mittelfranken werfen, um ihren Hass gegen den immer wieder durch misogyne und rassistische Kommentare aufgefallenen YouTuber, den sie nur aus dem Netz kennen, auch real auszuleben. Oder wenn Männer (und wenige Frauen) in verschiedenen Städten Hetzjagden veranstalten und Andersaussehende zusammenschlagen. Überhaupt bei jeder kriegerischen Auseinandersetzung, von der ich höre, bei jeder Schlägerei, die ich sehe, jedem Gewaltverbrechen, über das ich lese. Am eigenen Leib erlebe ich seltener Gewalt, eher ihre Vorstufe, die Aggression: Wenn mich ein Autofahrer mit rotem Gesicht aus dem Autofenster anbrüllt, weil er nicht gesehen hat, dass für mich als Radfahrerin noch die Grünphase gilt. Wenn ich bei einem überfüllten Konzert versuche, mit dem Bierbecher in meine Reihe zurückzukehren, und Männer auch nach einem freundlichen „Entschuldigung?“ ihre Ellenbogen in meinen Körper drücken. Als Kind habe ich ebenfalls körperliche Gewalt erlebt, durch meine Familie.

Seitdem frage ich mich, wie sie zustande kommt. Wann sie angefangen hat. Was sie ist – und wofür sie gut ist: Ist sie nur „ein stummer Schrei nach Liebe“, wie die Ärzte singen? Hat sie ein Geschlecht? Entstammt sie der Angst? Oder der Gier? Oder den Hormonen? Kann sie ein Blitzableiter sein, noch Schlimmeres verhindern? Gehört sie zu einem „natürlichen“ Auf und Ab?

Und wenn sie doch so schlimm ist, diese Gewalt – wieso feiern wir sie in der Fiktion derartig ab? Werden immer realistischer in unseren Gewaltdarstellungen, lassen vermehrt Frauen zuschlagen, choreografieren die Kampfszenen elegant wie Tänze? Warum erregt uns Gewalt, fasst uns emotional an? Mein innerer Film- und Fernsehnerd fragt die Jugendschützerin in mir zudem regelmäßig voller Bammel: Stimmt es, was gewalthaltigen Formaten (und Video- und Computerspielen ohnehin) übel nachgesagt wird, dass diese Gewalt triggern können?
 

Gute und böse Aggressionen

Der 1980 verstorbene Psychoanalytiker und Sozialpsychologe Erich Fromm hat zu dem Thema 1973 ein Buch herausgebracht, das als Standardwerk der Gewaltforschung gilt. Es heißt Anatomie der menschlichen Destruktivität, und er definiert darin – oft Bezug nehmend auf andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor ihm – verschiedene Arten der Aggression, gutartige und bösartige. Eine „konformistische “, die aus Gehorsam passiert  – der Pilot, der keinen wirklich aggressiven Akt vollbringt, wenn er in seinem Flugzeug den Knopf für die Bombenklappe drückt, dennoch ist seine Bombardierung der Stadt ein Akt der Gewalt. Und eine „instrumentelle “, die als Mittel zum Zweck gilt. Fromm kennt die „Pseudoaggression“, die Schaden anrichten kann, ohne dass eine Absicht dazu besteht  – dazu zählt er die „spielerische Aggression“ und findet sie im Sport. Die „Aggression als Selbstbehauptung“ gehört laut Fromm ebenfalls zur „Pseudoaggression“, und nur bei ihr gibt es angeblich einen Zusammenhang zu männlichen Hormonen: Bereits in den 1940er-Jahren hat ein Forscher namens Edward A. Beeman Tierversuche durchgeführt, bei denen Ratten, denen das Testosteron entzogen wurde, weniger Kampfeslust an den Tag legten. Selbstverständlich sind Menschen und Tiere nicht einfach vergleichbar. Dennoch könnten Berichte, nach denen Transmenschen – bei einer F-to-M-Geschlechtsangleichung – mit einem erhöhten Testosteronspiegel in einer ähnlichen Situation aggressiver als früher reagieren, ebenfalls auf einen Zusammenhang zwischen Aggression und Hormonen hindeuten.
 

Wieso gibt es mehr männliche Gewalttäter?

Es bleibt die Frage, wozu man (und wozu Mann) sie  – neben reaktiver Selbstverteidigung  – braucht, diese Aggression. Wenn doch angeblich „ein kleines Lächeln alle Türen“ öffnet.

Erich Fromm fragt in seinem Buch zum Unterschied von wütenden Männern und Frauen rhetorisch:

Welche biologische Funktion könnte ein feindseliges, dem weiblichen Partner schädigendes Verhalten des männlichen Partners haben?“

Und antwortet, dass es sich bei der von ihm sogenannten, vor allem männlich konnotierten „Aggression als Selbstbehauptung“ eben nicht „um ein an sich feindseliges oder angriffslustiges Verhalten“ handelt, sondern „um eine Aggression, die dazu dient, dass man sich durchsetzt.“ Durchsetzen müsse sich der Mann u.a., weil „die anatomischen und physiologischen Bedingungen der Sexualfunktion des Mannes erfordern, dass der Mann fähig ist, das Hymen zu durchstoßen, und dass er nicht durch Angst, Zögern […] davon abgehalten wird.“

In diesen Worten schlummert fraglos ein Verständnis von „aktiver“ männlicher und „passiver“ weiblicher Sexualität, das nicht nur prinzipiell überholt ist, sondern das auch Gefahr läuft, von Männern ausgeübte, sexuelle Gewalt psychologisch und biologistisch zu entschuldigen. Als Feministin sträuben sich mir dabei sämtliche Achselhaare. Doch der Protofeminist Fromm hatte das vorausgesehen  – und ordnet sexuelle Gewalt anderen Formen unter:

Da die der Selbstbehauptung dienende Aggression die Fähigkeit des Menschen, seine Ziele zu erreichen, erhöht, vermindert sie beträchtlich das Bedürfnis, den anderen auf sadistische Weise zu beherrschen.“

Mit anderen Worten neigt jemand, der zufrieden ist, weil er ein Ziel erreicht hat, seltener dazu, anderen Schaden zuzufügen. Fromm trennte also schon damals die sexuelle Gewalt von der Sexualität – genau wie wir nicht erst seit #MeToo wissen, dass sexueller Missbrauch vor allem Machtverhältnisse wiedergibt. Auch wenn manche Täter qua anatomischem Unterschied, etwa größerer Muskelmasse, öfter von ihr Gebrauch machen als andere, kennt Gewalt vielleicht doch kein Geschlecht. Dass unterm Strich sowohl bei der sexuellen als auch bei jeder anderen körperlichen Gewalt Männer den weitaus größeren Täteranteil stellen, liegt nach dieser Argumentation daran, dass sie es können. So banal das klingt.

Die Psychologische Psychotherapeutin Esther Knichel von der Berliner Therapeutinnen- und Therapeutenvereinigung „Vivelia“ glaubt ebenfalls nicht an eine Verbindung zwischen Hormonen und Gewalt:

In vielen Studien wurde herausgefunden, dass es da keinen direkten Zusammenhang gibt. Man ist sich heute sicher, dass stattdessen die Lerngeschichte, die Prägung eine wesentliche Rolle spielen: Was man im Kindes- und Jugendalter durch die Erziehung lernt, bestimmt, wie wir später mit Aggression umgehen.“

Knichel spricht von „operanter Konditionierung“: Wenn ein gewalthaltiges Verhalten als Kind bestraft wird, zeigt man es später seltener, wenn es belohnt wird, verhält man sich als Erwachsener eher wie die Axt im Wald.

Wieso aber sollte es diese Konditionierung auch schon in Prägesellschaften, etwa bei den Jägern und Sammlern, gegeben haben? Wurde gewalthaltiges Verhalten, aus welchen Motiven auch immer, etwa schon in der Jungsteinzeit belohnt?
 

Jungsteinzeit: Abgrenzung versus Empathieentwicklung

Es gibt tatsächliche Zeugnisse der Gewalt aus der Jungsteinzeit. Für den Prähistoriker, Skythen-Experten und Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Hermann Parzinger könnten die Gewaltausbrüche, von denen Fundstätten wie eine vor Knochen wimmelnde Grubenanlage im baden-württembergischen Herxheim zeugen, ein Hinweis darauf sein, dass „es zu einem kulturellen Umbruch im europäischen Raum kam, dass diese große, einheitliche Kultur der Linearbandkeramik um 5000 v. Chr. in viele kleinere zerfällt, es zu einer Regionalisierung kam“. Die „Linearbandkeramik“ bezeichnet die älteste bäuerliche Kultur der europäischen Jungsteinzeit, in der Gefäße mit Bandmustern verziert wurden. Im Ausgrabungsort Herxheim, das ist das Besondere, waren scheinbar nicht hungrige Fremde für das Töten von Männern, Frauen und Kindern verantwortlich, sondern Angehörige derselben Kultur, eines Nachbardorfes etwa. „Herxheim ist irritierend“, sagt Parzinger, denn „wenn man nur Vorräte erbeuten wollte oder Rohstoffe, dann reicht es, wenn man sie erobert, die kräftigsten Verteidiger umbringt – und mit der Beute verschwindet.“ Jene in dieser Zeit angesiedelte Regionalisierung könnte also „Abgrenzung“ bedeuten – und daraus resultiert der Wunsch, das andere, Fremde auszulöschen.

In seinem Buch datiert Fromm den Anfang dieser systematischen Gewalt ebenfalls in das Neolithikum – es wurde enger, die territoriale Verteidigung setzte ein. Und bei sesshaften Menschen gibt es mehr zu klauen als bei Nomadinnen und Nomaden. Doch bedeutet das, dass der Mensch der Alt- und Mittelsteinzeit, oder früher, ein friedliches, haariges Geschöpf war? Parzinger glaubt das nicht, er verweist auf die Probleme der Beweislage: „Man muss sich immer der fragmentarischen Quellen bewusst sein“. Auch der Homo heidelbergensis vor 400.000 Jahren, sagt der Prähistoriker, kannte eventuell eine Gewalt, die über die instrumentelle Aggression hinausreichte. Wie die Gewalt damals verarbeitet wurde, wann und ob eine Empathieentwicklung stattfand, ist eine ebenso wichtige Frage. Seit dem Neandertaler, etwa 130.000 Jahre vor unserer Zeit, gibt es Gräber, wurden die Toten also bestattet – und nicht einfach so liegen gelassen. „Empathie und auch die Entdeckung des Jenseits spielten da vermutlich eine Rolle“, erklärt Parzinger. Genau das untersucht Felix Randau in seinem 2017 entstandenen Film Der Mann aus dem Eis: Er erzählt die mögliche Geschichte des „Ötzis“, jener Neolithikum-Mumie aus dem Tisenjoch, die 1991 in den Ötztaler Alpen gefunden wurde. Randaus Figur erlebt ein persönliches Drama – Frau und die Kinder des Ötzis werden umgebracht. Er findet die Mörder und rächt sich an ihnen. Doch am Ende verzichtet er darauf, auch deren Familie umzubringen – vielleicht, weil er durch eigene Leiderfahrung das Leiden anderer Menschen wahrzunehmen lernt: „Ich wollte, dass die Figur diesen Schritt aus dem Kreislauf der Gewalt heraus macht“, sagt der Regisseur. „Es geht nicht um Erlösung, aber es gibt eine Erkenntnis: Die Empathie erwacht.“ Inszeniert hat er die gewalthaltigen Szenen brutal realistisch: fast lautlos, nicht elegant choreografiert, kaum geschnitten. „Ich wollte Gewalt zeigen, nicht bewerten, nicht ästhetisch darstellen, nur in ihrer Dumpfheit abbilden“, sagt Randau.
 


Wenn Gewalt immer schon im (Vor-)Menschen angelegt war und ausgelebt wurde – muss man sie dann nicht auch zwingend im fiktionalen Bereich erwarten? Spiegeln die gewalthaltige Fiktion, die Schlachten bei GoT, die stilisierten Schlägereien in Actionfilmen wie Atomic Blonde nur, was eh in uns allen schlummert? Und immer wieder – privat und in Kriegen – hervorbricht? So wie es der Wissenschaftler und Kliodynamiker Peter Turchin in seinen Büchern vertritt: Kriege als Ausbrüche von Gewalt treten nach seiner „Population-Warfare“-Hypothese regelmäßig und vor allem reziprok zum Druck durch steigende Bevölkerungsdichte auf. Ähnlich hatte Fromm auch schon argumentiert und u.a. das aggressivere Verhalten von eingesperrten Tieren mit unserem Gebaren im kleiner werdenden Raum von wachsenden Städten verglichen: Wenn man die Flasche zusammenpresst, fliegt einem der Korken um die Ohren.
 

Gewalt als Kommunikationsform

Für den Film- und Kulturwissenschaftler und Ethnologen Prof. Dr. Marcus Stiglegger ist Gewalt „als menschliche Verhaltensform der Kommunikation zuzuordnen – eine mitunter physische Kommunikation, die auf Körperkollision aus ist und damit eine Art Kräftespiel enthält“. Zwischen der fiktionalen und der realen Form gibt es seiner Ansicht nach einen großen Unterschied: Bei der inszenierten Darstellung „ist physische Gewalt eine Erzählform, ein körperbasiertes Narrativ. Und wir haben früh gelernt, ein solches Narrativ als eine Fiktion zu akzeptieren, als Ersatz für echte Sprache“. Als medienkompetenter Erwachsener verstehe man diese Sprache, behauptet er, und es sei naiv, die Wahrnehmung dieser Sprache der Wahrnehmung von Gewalt in der Realität gleichzusetzen. Die Gewöhnung an – vielleicht sogar immer gröbere – fiktionale Gewalt, findet Stiglegger, sei ein Teil dieser Medienkompetenz und enthalte auch die Fähigkeit, diesen Schrecken anders zu rezipieren.

So denkt auch die Psychotherapie – mit der Ausnahme von Menschen, die eh bereits ein hohes Gewaltpotenzial in sich tragen: „Solche Personen würden aber wahrscheinlich auch ohne den Film oder das Spiel Gewalt ausüben“, sagt Esther Knichel. Und steht damit auf einer Linie mit den meisten aktuellen Studien zum Thema.

Der Filmtheoretiker Siegfried Kracauer las, so schrieb es sein Freund Adorno, „Film als Chiffre gesellschaftlicher Tendenzen“. Berühmt geworden ist Kracauers Satz aus seiner Psychologischen Geschichte des deutschen Films, dem erstmals 1947 erschienenen Buch Von Caligari zu Hitler:

Was die Filme reflektieren, sind weniger explizite Überzeugungen als psychologische Dispositionen.“

Was im Film passiert, ist also in der Psyche der Menschen, die ihn verantworten, angelegt. Das bezieht sich zwar explizit auf das deutsche Kino vor und nach 1933. Doch wenn man die These weiterdenkt, so Stiglegger, hat sie „etwas Prophetisches, z.B. wenn man sich Zombiefilme ansieht – das sind großartige Metaphern auf gesellschaftliche Phänomene wie Solidarisierung, Entfremdung, das Eindringen in definierte Territorien“. Angstfantasien fänden so eine reale Entsprechung, meint er.

Schon wieder lese ich von Gewalt auf der Straße und zu Hause. In unserem Hinterhof hört man derweil Schreie, es klingt, als ob mehrere Menschen aufeinander losgehen. Vielleicht würde es nützen, ihnen Zombiefilme vorzuführen, damit sie in ihnen die Angst erkennen, die sie antreibt. Vielleicht hätte man sie als Kinder mehr belohnen sollen, sobald sie etwas Nettes tun. Vielleicht muss man sie separieren, damit der Gruppenzwang nicht mehr greift. Oder vielleicht muss man akzeptieren, dass Gewalt darum immer wieder in Wellenbewegungen über die Gesellschaft kommt, weil sie in uns allen drin ist – und nie weg sein wird.

Ich öffne das Fenster und will gerade „Ruhe!“ brüllen. Dann überlege ich es mir anders und rufe „Friede!“ Eventuell werfe ich gleich noch ein paar Blumen hinterher.