Das Fernseharchiv. Der Fall: „Die Ingo Appelt Show“
„Es hat sich mit der letzten Sendung ganz deutlich gezeigt, dass die ,Ingo Appelt Show‘ dem Qualitätsanspruch der Marke ProSieben nicht genügt.“1
Mit einer überdeutlichen Pressemitteilung verkündete der Sender ProSieben am 28. November 2000 die Einstellung seiner wöchentlichen Reihe Die Ingo Appelt Show „mit sofortiger Wirkung“ (ots 2000). Dabei war das Format mit dem Komiker Ingo Appelt erst wenige Wochen zuvor in Serie gegangen. Was war geschehen?
Mitte der 1990er‑Jahre war der ehemalige Maschinenschlosser Appelt in den damaligen Comedyshows mit seinen provokanten Auftritten aufgefallen. Er scherzte offen über Intimitäten, Körperflüssigkeiten und Sex, beleidigte Minderheiten und parodierte Prominente in herablassender Art (u. a. Niki Lauda mit einer unsensiblen Darstellung seiner Verbrennungen). Fester Bestandteil seiner Auftritte war bald das Wort „Ficken“, das er ständig grölte und letztlich auf ein goldenes Schild drucken ließ, um es bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit in die Kamera zu halten. Als selbst ernannter „Kotzbrocken der Nation“ erspielte er sich auf diese Weise eine zunehmende Bekanntheit und regelmäßige Bildschirmpräsenz. In einem späteren Interview beschrieb Appelt diese Zeit als einen fortwährenden Wettbewerb: „Wie weit geht Appelt beim nächsten Mal, welche Sauerei macht er als nächstes? Alles, was eigentlich nicht ging, habe ich gemacht und das auch sehr erfolgreich“ (Buhre 2020).
Der gezielte Tabubruch ist nicht bloß für Komiker wie Ingo Appelt lohnend, auch für das Fernsehen als solches wirkt er konstituierend. Wie der Medienwissenschaftler Lorenz Engell erläutert, benötigt das Fernsehen Skandale als kalkulierte Störung im Programm, um den eigenen Horizont auszuhandeln. „Im Skandal versichert sich das Fernsehen also seiner Möglichkeiten, indem es sich in Beziehung zu seinen Extremwerten […] setzt“ (Engell 2005, S. 36). Im Prozess der Aushandlung stünden Normalität und Skandal (im Sinne einer Störung) in einem „fast dialektisch verschränkten Verhältnis zueinander. Denn nur aneinander werden sie bemerkbar; ohne Störung gäbe es ebenso wenig eine Normalität und umgekehrt“ (ebd., S. 20).
Zugleich sorgt ein Skandal für Aufsehen und wertvolle Sichtbarkeit im wachsenden Medienangebot. Schließlich, so Engell weiter, ist ein Skandal „keineswegs nur ein beachtetes Ereignis, sondern wiederum eines, dessen Beachtung wiederum beachtet wird“. Die nach außen sichtbare Empörung ist demnach im Kern eine „Beachtung der Beachtung“ und damit eine quasi doppelte Aufmerksamkeit (ebd., S. 22).
Unter diesen Vorzeichen entschieden die Verantwortlichen von ProSieben, den Unruhestifter Ingo Appelt für eine Show zu verpflichten, die sogar seinen Namen tragen und ganz auf ihn zugeschnitten werden sollte. Um allerdings sicherzugehen, ob er mit seinen gezielten Grenzüberschreitungen auch als eigenständiges Programm überzeugen kann, ließ man zunächst eine Pilotfolge herstellen. Zuständig für die Umsetzung war die Firma Brainpool, die eine Mischung aus Stand-up-Nummern, Studioaktionen und Einspielfilmen entwickelte. Als Kulisse diente eine im Industrielook gehaltene Halle. In deren Zentrum stand eine längliche, in den Raum ragende Bühne, an deren Rändern das Publikum nach Geschlechtern aufgeteilt platziert war. In der Show inszenierte sich Appelt dann als selbst ernannter Retter, der im Krieg der Geschlechter zwischen den Fronten vermitteln wollte. Natürlich getreu seinem bisherigen Image. Und er hielt, was sein Name versprach: Im Auftakt, der am 3. Januar 2000 ausgestrahlt wurde, lutschte er als Vampir benutzte Tampons aus, schunkelte mit Wasserleichen und sprengte Soldaten im Kosovo in die Luft.
Zum Wesen des Skandals gehört es, dass der ausgelöste Schock immer nur vorübergehend anhält und regelmäßig erneuert werden muss. „So froh sie [die seltsame Empfindung, Anm. d. Autors] ist, wieder zur Normalität und in ihr zum Medium zu finden, so begierig ist sie doch zugleich auf den nächsten Skandal“ (ebd., S. 36). Weil sich in der Logik des Fernsehens außerdem alles einem seriellen Muster unterwerfen muss, gab ProSieben schnell eine Fortsetzung, diesmal in Form einer Staffel aus 13 Episoden, in Auftrag, die ab Herbst 2000 im wöchentlichen Rhythmus den Tabubruch zelebrieren sollte. Und Appelt lieferte erneut ab: Er präsentierte in den nächsten Ausgaben eine sprechende Handpuppe in Form eines riesigen Penis oder buchstabierte seine eigene notgeile Pubertät in Sketchform aus.
Zum Wesen des Skandals gehört es, dass der ausgelöste Schock immer nur vorübergehend anhält und regelmäßig erneuert werden muss.
Die Überbietungslogik birgt natürlich die Gefahr in sich, das reizvolle Spiel mit der Auslotung der Möglichkeitshorizonte irgendwann zu überreizen. Erschwerend kommt hierbei hinzu, dass die Horizonte stets in Abhängigkeit zu aktuellen gesellschaftlichen Diskursen und Ereignissen stehen – was Appelt dann zum Verhängnis werden sollte. Am 23. November 2000 nämlich berichtete die „Bild“-Zeitung von einem eigentlich schon drei Jahre alten Vorfall, bei dem ein Junge in einem sächsischen Schwimmbad starb, weil er von Neonazis ertränkt worden sein sollte. Auch wenn sich schnell herausstellte, dass der Junge nicht ermordet worden war und es sich um einen tragischen Badeunfall gehandelt hatte, löste sein Tod deutschlandweit Mitgefühl aus. Ausgerechnet an jenem Tag lief abends die vorab aufgezeichnete 11. Folge der Ingo Appelt Show, die das Schwerpunktthema „Was wir an Kindern mögen und was wir an ihnen hassen“ in aller Häme ausbreitete. Im Studio veranstaltete Appelt dazu u. a. eine Kegelpartie, bei der die Pins aus Babypuppen bestanden. Als Höhepunkt konnte ein Pärchen die Zukunft seiner Kinder dadurch bestimmen, dass es Babypuppen wie Fußbälle auf eine Torwand schoss, auf der die Löcher mit den Worten „arbeitslos“ oder „sorglos glücklich“ beschriftet waren.
Als die Proteste insbesondere gegen die Fußballaktion lauter wurden, reagierte ProSieben entschlossen, fünf Tage später erfolgte die eingangs zitierte Pressemitteilung. Der Produzent der Show, Jörg Grabosch, zeigte sich uneinsichtig, da die entsprechende Ausgabe zuvor von der verantwortlichen Redaktion abgenommen worden sei. Der Sender habe zudem gewusst, worauf er sich einlasse, sodass man sich im Nachhinein nicht beschweren könne: „Wer Ingo Appelt einkauft, weiß doch, was ihn erwartet“ (Alanyali 2000).
Für Appelt bedeutete die Absetzung einen erheblichen Karriereknick. Er beklagte einen spürbaren Rückgang seiner Buchungen und Ticketverkäufe. Als Konsequenz versucht er in seinen Auftritten nun, „nicht zu sehr auf die Ocken“ zu hauen (Buhre 2020). Provokationen gehören für ihn aber weiterhin zum Handwerk: „Komiker sind Grenzgänger. Somit darf es keine Tabus geben“ (Alanyali 2000).
Anmerkung:
1) Nicolaus Paalzow in: ots. A.a.O., 28.11.2000
Literatur:
Alanyali, I.: Ein Grenzgänger ging zu weit. In: welt.de, 30.11.2000. Abrufbar unter: www.welt.de
Buhre, J.: Hinter jedem Baum lauert der Wahnsinn. In: planet-interview.de, 15.01.2020. Abrufbar unter: www.planet-interview.de
Engell, L.: Falle und Fälle. Kleine Philosophie des Fernsehskandals. In: C. Gerhards/S. Borg/B. Lambert (Hrsg.): TV-Skandale. Konstanz 2005, S. 17 – 37
ots: ProSieben setzt die „Ingo Appelt Show“ ab. Sender reagiert auf geschmackliche Entgleisung. In: presseportal.de, 28.11.2000. Abrufbar unter: www.presseportal.de