Dem Kino beim Denken zuschauen

Ansätze philosophischer Filmbildung

Werner C. Barg

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Prof. Dr. Werner C. Barg ist Autor, Produzent und Dramaturg für Film und Fernsehen sowie Honorarprofessor im Bereich Medienwissenschaft der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF. An der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg leitet er in der Abteilung Medien- und Kommunikationswissenschaft den Ergänzungsstudiengang „Medienbildung“ des Zentrums für Lehrer*innenbildung (ZLB)

Der Beitrag plädiert für eine Filmbildung, die sich nicht nur als Wissensvermittlung mithilfe eines filmanalytischen Instrumentariums versteht, sondern das Kino neben seiner wichtigen Unterhaltungsfunktion auch als Bildungsort ernst nimmt.

Online seit 23.08.2022: https://mediendiskurs.online/beitrag/dem-kino-beim-denken-zuschauen-beitrag-772/

 

 


Der Titel dieses Beitrags1 ist metaphorisch, denn das Kino selbst ist ein Ort. Und ein Ort kann nicht denken. Allerdings ist das Kino ein Ort, an dem gelacht, geweint und eben auch gedacht werden kann − evoziert durch Filme und den ihnen inhärenten Konzepten, die kreative Filmteams erdacht haben, um Denkprozesse darzustellen und/oder das Publikum durch das Dargestellte zum Denken anzuregen.

Die nachfolgenden Ausführungen möchten den Blick auf die Film- und Medienbildung in Schule und Hochschule lenken. Es werden Ansätze vorgestellt, die Lehrende wie Lernende für die Besonderheiten dieses künstlerischen Kommunikationsprozesses sensibilisieren, in dessen Zentrum der Sender das filmische Werk stets mit mehrdeutigem Sinn codiert, der entsprechend differenziert vom Empfänger dekodiert werden kann.
 

Umfassender Bildungsbegriff

Diese Herangehensweise setzt einen sehr allgemeinen und weit gefassten Begriff von „Bildung“ voraus, wie ihn etwa Frank Beiler formuliert hat. Er will Bildung als „ein tiefgreifendes, unabgeschlossenes und prozessuales Geschehen“ verstanden wissen, „das notwendig von Unbestimmtheitsstellen und mit Brüchen durchzogen ist“ (Beiler 2019, S. 1). Für die Filmbildung in Schule und Hochschule bedeutet dies, dass es nicht nur darum geht, den Lernenden Wissen über den filmanalytischen „Instrumentenkasten“ zu vermitteln. Sie sollen also nicht nur mit den gängigen Analyseparametern, den dramaturgischen und erzählerischen Konzepten und formalen Gestaltungsmitteln von Spiel-, Animations- und Dokumentarfilmen sowie filmischen Mischformen, zu denen z. B. Doku-Drama, Doku-Fiktion und Mockumentary gehören, vertraut gemacht werden. Vielmehr sollten die Lehrenden auch bereit sein, sich gemeinsam mit den Lernenden auf unbekanntes Terrain zu wagen und etwa Filme in den Blick zu nehmen, die mithilfe des instrumentellen Wissens über Film allein kaum zu verstehen sind.
 

Filme betrachten, bei denen man „ins Schwimmen“ gerät

Der französische Philosoph Michel Serres hat diesen Ansatz folgendermaßen beschrieben: „Der Pädagoge bricht mit den Kindern auf, verlässt das durch die Familie und die Schule markierte Terrain und begibt sich anderswohin. Er hat einen Vorsprung, aber irgendwann gelangen sie an einen Fluss und alle schwimmen, und in diesem Moment schwimmt der Pädagoge nicht besser als der Schüler.“ (Serres 1991, zit. nach: Bergala/Henzler 2011, S. 169)

Alain Bergala, Filmkritiker und in den 1980er‑Jahren Chefredakteur der französischen Filmzeitschrift „Cahiers du Cinéma“, bezieht sich auf Serres’ Ansatz und leitet daraus in seiner Schrift Kino als Kunst. Filmvermittlung an der Schule und anderswo (Bergala 2006) ein Filmbildungskonzept ab. Dieses verfolgt u. a. das Ziel, durch die Zusammenstellung von Fragmenten aus unterschiedlichen Filmen den auf narrative Zusammenhänge geschulten Blick auf den Film als Kunstwerk aufzubrechen, „um zwischen den Ausschnitten Beziehungen aller Art – analytische, poetische, den Inhalt oder die Form betreffende – zu schaffen.“ (Bergala 2006) Dieses Verfahren ermöglicht – so Bergala – „eine weniger didaktische Herangehensweise, die primär darauf basiert, Beziehungen zwischen Filmen oder Filmfragmenten herzustellen. Dabei ist nicht mehr ein Diskurs Träger des Wissens, sondern das Denken entwickelt sich allein aus der Beobachtung dieser vielfältigen Beziehungen.“ (ebd.)

Zugleich erlaubt Bergalas Ansatz, auf dessen Grundlage er in den Jahren 2000 bis 2002 im Auftrag des damaligen Bildungsministers Jack Lang die bis heute existierenden Kultur- und speziell auch Filmbildungsprogramme für die Schulen in Frankreich konzipiert hat, sich von dem „sehr alten didaktischen Modell einer ,wissenden‘ Stimme“ (ebd.) freizuschwimmen. So können auch Filme einbezogen werden, bei denen – um in Serres’ Bild zu bleiben – Lehrende wie Lernende ins Schwimmen geraten: Filme, die Rätsel aufgeben; Filme, die mit dem gängigen filmanalytischen Wissen kaum zu erschließen sind.
 

Film als Rätsel akzeptieren

Solch ein Film ist Ein andalusischer Hund (Un Chien Andalou, F 1929). Das Kurzfilmdebüt der Surrealisten Luis Buñuel und Salvador Dalí ist nur knapp 20 Minuten lang und daher gut im Unterricht höherer Schulklassen einsetzbar. Allerdings wird der Film Lehrende wie Lernende nach der Sichtung zunächst ratlos zurücklassen. Dalí/Buñuel vermeiden konsekutiv nachvollziehbare narrative Zusammenhänge. Sie setzen Szenen, die sie geträumt haben, aneinander. Sie verbinden Schockbilder wie das Durchschneiden eines (Kuh‑)Auges mit einem Rasiermesser mit parodistischen Genremomenten. Sie bedienen sich einer assoziativen Montage, um ihr disparates Erzählmaterial zusammenzufügen. Ein durchgängiger erzählerischer Sinn ist schwer erkennbar. Ging es den Debütanten um die Übersetzung der surrealistischen Manifeste (Breton 1996) in bewegte Bilder? Wollten sie von ihren Träumen erzählen? Oder reihen die beiden Regisseure Szenen des Erwachsenwerdens in surrealistischer Manier aneinander (Kuchenbuch 2005, S. 395 ff.)?
 

Un Chien Andalou (Film&Clips, 17.01.2014)



Buñuel gibt in seinen Memoiren selbst ein wenig Aufschluss zu diesen Fragen: „Das Drehbuch wurde in weniger als einer Woche nach einer sehr einfachen Regel geschrieben, für das wir uns in voller Übereinstimmung entschieden hatten: keine Idee, kein Bild zuzulassen, zu dem es eine rationale, psychologische oder kulturelle Erklärung gäbe; die Tore des Irrationalen weit zu öffnen; nur Bilder zuzulassen, die sich aufdrängten, ohne in Erfahrung bringen zu wollen, warum.“ (Buñuel 1999, S. 142) Dieses Prinzip einer „Art automatischer Schreibweise“ (ebd., S. 144) setzt in Ein andalusischer Hund Denkprozesse der Macher unmittelbar um. In der Rezeption kann das  – löst sie sich von der verzweifelten Suche nach narrativem Sinn und Zusammenhang – gleichfalls eigene assoziative Denkketten freisetzen. Das filmische Rätsel als Rätsel zu akzeptieren und sich auf die eigenen Gefühle, Fantasien und Erinnerungen einzulassen, um in den Zustand eines, von allen Zwängen befreiten „ästhetischen Spiels“ (Schiller) zu fallen, wäre wohl, wenn man bei Dalí/Buñuel überhaupt von Sinn sprechen möchte, eine mögliche Absicht, die die Surrealisten mit ihrem Film verfolgt haben.
 

Überhang an erzählerischem Sinn

Nun sind Produktionen wie Ein andalusischer Hund in der Filmgeschichte allerdings rar gesät. In seinem Langfilmdebüt Eraserhead nimmt David Lynch 1974 surrealistische Momente ebenso auf wie in einzelnen Szenen in Blue Velvet (USA 1986) oder in den rätselhaften Erzählstrukturen seiner späten Filme Lost Highway (USA 1996) und Mulholland Drive (USA 2001) (vgl. Pabst 2004).
 

Trailer Eraserhead (Rotten Tomatoes Classic Trailers, 30.10.2018)



Cineastische Anlässe, Denkprozesse beim Publikum anzuregen, schaffen auch der poetische Realismus mancher Filme des argentinischen Regisseurs Fernando Birri oder die frühen Werke des Mexikaners Alejandro González Iñárritu. Demgegenüber beginnt etwa Marc Fosters Stay (USA 2005) als verwirrendes Filmrätsel, erzählt auf verschiedenen Handlungs- und Gedankenebenen der Hauptfiguren, um sich doch am Ende ganz und gar schlüssig als Todesfantasie eines sterbenden Unfallopfers aufzulösen. Fosters Film ist symptomatisch für die Nachgiebigkeit von Filmemachern am Ende doch Geschichten mit nachvollziehbaren Erzählanordnungen zu liefern.

Verwunderlich ist das nicht, denn die überwiegende Nachfrage des Publikums nach logisch nachvollziehbarer Erzählung begründet das Angebot eines überwältigenden Überhangs an narrativem Sinn in Filmproduktionen. Die Renaissance der Serie, die mit noch längerem erzählerischem Atem als im zeitlich doch letztlich stark limitierten Einzelfilm ein noch größeres Involvement des Publikums für die Entwicklung der Figuren erzeugen kann (Barg 2015), verstärkt dieses Nutzungsverhalten. Es schafft gerade beim jungen Publikum eine Prägung, die die Auseinandersetzung mit ungewöhnlicher und sperriger Filmkunst schwierig, aber in der Filmbildung der Schule umso dringlicher macht, damit eine Verengung der Filmsprache auf übliche Erzählkonventionen und Figurenklischees abgeschwächt wird und auch nachfolgende Generationen noch kompetente Filmsehende bleiben können.
 

Trailer Stay (SittingOvations, 08.04.2011)



Film als eigenständiges Bild der Welt begreifen

Bei der Verwirklichung dieser Zielsetzung kann der Wunsch des (jungen) Publikums nach Erzählung durchaus hilfreich sein, denn er zeigt das Bedürfnis, ähnlich wie in der Romanrezeption, in andere Welten und Universen einzutauchen. Dies gelingt, weil der Film „aus der Welt selbst ein Irreales [macht] […]: mit dem Film wird die Welt ihr eigenes Bild und nicht ein Bild, das zur Welt wird.“ (Deleuze 1989, S. 85)

Gilles Deleuze zeichnet in seiner umfassenden und komplexen zweibändigen Geschichte und Philosophie des Films die Entwicklung des Kinofilms im 20. Jahrhundert nach (Deleuze 1989 u. 1991). Illustriert an mannigfachen Filmbeispielen, legt er schlüssig dar, wie die anfänglich zentrale Kategorie der Filmkunst, die Abbildfunktion des Mediums und die damit einhergehende Faszination am „Bewegungs-Bild“ (Deleuze 1989, S. 11) und einer realistischen Darstellung sozialer Wirklichkeit, auch zum Zwecke der Gesellschaftskritik, verstärkt und heute überwiegend von der Konstruktion einer eigenen, durch eine „im eigentlichen Sinne kinematographische Cogito“ (ebd., S. 107) geprägten Welt abgelöst wurde.
 

Im Film dem Fremden als Fremdes begegnen

Deleuze – so Hanne Walberg – „denkt den Film als Modus der Produktion einer Wirklichkeit, die auf diese Weise nirgendwo sonst gegeben ist.“ (Walberg 2011, S. 183). Gerade dadurch kann der Film „als Medium der Präsentation eines Fremden, Verwirrenden und Ungedachten“ (ebd., S. 183) eindrucksvolle Bildungserlebnisse vermitteln – beispielsweise in den Filmen von Roy Andersson. Der schwedische Regisseur setzt in seinen Werken wie Songs from the Second Floor (S 2000) starke Bildungsmomente, indem er durch seine besondere Inszenierungstechnik ganz alltägliche Situationen fremd und ungewöhnlich erscheinen lässt. Dadurch zwingt er das Publikum, sie als fremd zu erleben und ganz neu über vermeintlich vertraute und konventionelle Alltagsrealitäten nachzudenken.
 

Trailer Songs from the Second Floor (HD Retro Trailers, 28.06.2020)



Das von Deleuze konstatierte „Wechselverhältnis zwischen Wahrnehmungsbild und einem es transformierenden Kamerabewußtsein“ (Deleuze 1989, S. 107) kann – so Walberg – auch in formaler Hinsicht das Publikum mit Fremdheit im Film konfrontieren. Zum Beispiel indem sich im Actionfilm der Blick des Zuschauers durch atemberaubend schnelle Schnitttechniken „in eine unzentrierte Wahrnehmungssituation hinein öffnet und die Wahrnehmung des Zuschauers auf diese Weise verfremdet“ (Walberg 2011, S. 180).

Filme wie Marc Fosters James Bond 007 – Ein Quantum Trost (GB/USA 2008), in denen rasante Bewegungen von Objekten und Figuren im Bild und des Bildes durch enorme Schnittfrequenzen von unter 24 Bildern pro Sekunde Wahrnehmungsmuster erzeugen, wie sie in der Realwahrnehmung des Publikums niemals möglich sind, machen „es dem Zuschauer schwer, sich auf die gesicherte eigene Wahrnehmung zurückzuziehen“ (ebd.). Damit aber schaffen sie cineastische Anlässe visueller Bildung: Sie machen „nicht Unzugängliches einfach zugänglich“, sondern präsentieren „es auf besonders unausweichliche Weise in seiner Unzugänglichkeit“ (ebd., S. 183). Sie zwingen den Zuschauer, „genau hinzuschauen“ (ebd., S. 180).
 

Kino der Begriffe

Im heutigen Kino können filmische Weltkonstruktionen also mit Realitätspartikeln spielen, um ein philosophisches Weltbild zu erstellen, mindestens aber um einen philosophischen Kommentar zur Welt abzugeben. Für Deleuze stellt sich daher nicht die Frage: „Was ist Kino, sondern: Was ist Philosophie? Das Kino ist eine neue Praxis der Bilder und Zeichen“ (Deleuze 1991, S. 358), sodass „eine Theorie des Kinos […] nicht über das Kino [handelt], sondern über die vom Kino hervorgebrachten Begriffe“ (ebd., S. 358). Dabei ist cineastische Weltanschauung nicht abstrakt; der Film denkt „in Affekten und Perzepten“ (Sanders 2011, S. 34).

Doch „bevor er zu diesem Bewußtsein seiner selbst gelangte“, stellt Deleuze fest, „mußte der Film eine langsame Entwicklung durchlaufen“ (Deleuze 1989, S. 107): Für die 1950er- und 1960er‑Jahre konstatiert Deleuze eine „Krise des Aktionsbildes“ (Deleuze 1991, S. 17). Es tauchen nun im Kino vermehrt Filmbilder auf, denen es nicht allein um die Schaffung kontinuierlicher Erzählräume geht. Bilder, die im Aktionsbild als einer zentralen ästhetischen Variante des „Bewegungs-Bildes“ (Deleuze 1989, S. 193 ff.) nach dem Prinzip „Situation – Aktion – Situation“ (SAS) funktionieren. Diese neuen Bilder fasst der französische Philosoph unter dem Begriff „Zeit-Bild“ (Deleuze 1991, S. 37) zusammen. Die Zeit-Bilder werden „von einer neuen Art von Zeichen, nämlich von Opto- und Sonozeichen“ (ebd., S. 17) geprägt.

Für Deleuze verweisen diese neuen Zeichen auf „subjektive Bilder, Kindheitserinnerungen, hörbare oder sichtbare Träume oder Phantasien, in denen die Figur nicht handelt, ohne sich gleichzeitig beim Handeln zuzuschauen, sozusagen […] als selbstgefälliger Zuschauer der von ihr selbst gespielten Rolle“ (ebd., S. 37).
 

Zeitbildfilme

Diese Darstellbarkeit der Verbindung innerer (seelischer) Vorgänge und äußerer (realitätsnaher) Abläufe in der Verbindung von Bewegungs-Bild und Zeit-Bild machte den Film als Denkform und das Kino als Ort der Bildung erst möglich. Für den Erziehungswissenschaftler Olaf Sanders sind die von Deleuze ermittelten Zeitbildfilme sogar besonders gut für die Vermittlung von Bildungsprozessen geeignet, da sie durch die Verknüpfung von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft Denkmechaniken sichtbar und für das Publikum nachvollziehbar machen (Sanders 2011).
 

2001: Odyssee im Weltraum

Filmemacher haben seit den 1950er-Jahren viele Verfahren entwickelt, um in ihren Filmen Zeit-Bilder darzustellen. Ein klassisches Beispiel ist die Schlusssequenz von Stanley Kubricks Science-Fiction-Film 2001: Odyssee im Weltraum (GB/USA 1968): Mit einer unvorstellbaren Geschwindigkeit rast Astronaut Bowman (Keir Dullea) durchs All und durchquert hierbei offenbar ein sogenanntes Wurmloch, wodurch alle Zeitdimensionen aufgehoben werden. Kubrick zeigt Bowmans Raumtrip als legendären Bilderrausch, bei dessen Herstellung das Filmteam alle Register der seinerzeit möglichen visuellen Effekte gezogen hat. Der Bilderrausch endet in einer früheren historischen Epoche, in einem hellen Wohnraum mit angrenzendem Badezimmer, möbliert im Louis-Seize-Stil des 18. Jahrhunderts.

Durch die Montage etabliert Kubrick in der nun folgenden Sequenz einen Blickdiskurs, in dem der Raumfahrer sich selbst in diesem Raum in immer älter werdenden Lebensphasen sieht bzw. durch den Wechsel der Einstellungen in diese eintaucht. Durch dieses Montageverfahren setzt Kubrick um, was Deleuze später in seiner Filmphilosophie „das Kristallbild“ (Deleuze 1991, S. 96) genannt hat. Durch die Montage-Inszenierung der Szene erzeugt Kubrick eine kristalline Struktur, die durch die „Ununterscheidbarkeit von Realem und Imaginären, von Gegenwärtigem und Virtuellem“ (ebd., S. 97) gekennzeichnet ist.
 

Trailer 2001: A Space Odyssey (Warner Broth Pictures, 20.04.2018)



Mit diesem Zeit-Bild visualisiert der Regisseur im imaginären Blick seiner Figur zugleich inhaltlich die Grundidee der Quantenphysik, dass die Existenz mehrerer Zeitebenen in einem Raum möglich ist, der Mensch aber angesichts der geringen Geschwindigkeit, mit der er sich im physischen Raum normalerweise bewegen kann, nur seine lebenszeitliche Zeitdimension im Hier und Jetzt erleben kann.
 

Himmel über der Wüste

Ein weiteres Beispiel für das raffinierte Spiel mit Zeit- und Bewegungs-Bildern zur Sichtbarmachung von Gedankenprozessen ist die gleichnamige Verfilmung des Romans The Sheltering Sky (Himmel über der Wüste, GB/I 1990) in der Regie von Bernardo Bertolucci.
 

Trailer Himmel über der Wüste (Arthouse, 11.11.2020)



In einer frühen Szene des Films lässt der Regisseur den Autor des Romans, Paul Bowles, selbst auftreten. Bowles sitzt in einem Café der nordafrikanischen Hafenstadt Tanger, von wo aus das Drama um drei Amerikaner in der Wüste ihren Ausgang nimmt. Bowles‘ versonnen-nachdenklichem Blick folgend, fährt die Kamera parallel langsam in den Raum des Kaffeehauses hinein. In der Tat scheint die Kamera dem erzählerischen Gedankenfluss des Autors zu folgen und in die Romanhandlung auf einer anderen Zeit- und Handlungsebene einzutauchen.

Visuelles Signal für diesen Ebenenwechsel scheint die Figur eines Kellners zu sein, der parallel zur Kamerafahrt hinter einer Wand zu sehen ist, die als eine Art Raumteiler fungiert. Der Mann jongliert schnell mit einem Tablett in der Hand an den Öffnungen der Wand vorbei, kommt aber am Ende nicht hinter der Wand hervor, sondern ist verschwunden. Einen Augenblick später taucht er aber plötzlich von links kommend wieder im Bewegungs-Bild auf, die nun zur Gruppe der Protagonisten der Verfilmung hinüberschwenkt und ‑fährt.

Bertolucci greift in der filmischen Inszenierung dieser Szene einerseits die Idee des kinematografischen Cogito auf, das durch die Kamera als Erzähler vollzogen wird, ironisiert aber zugleich das Konzept des Zeit-Bildes, indem er sich eines optischen Tricks bedient: Die vermeintlichen Durchblicke, durch die der Zuschauer im Bewegungs-Bild der Kamera den Kellner anfangs auf der Rückseite der Wand wähnte, erweist sich als optische Täuschung. Es handelt sich um Spiegel, die Bertolucci hier geschickt einsetzt, um ein Bewegungs-Bild wie ein Zeit-Bild aussehen zu lassen.

Am Ende der Szene sitzt Bowles noch immer an seinem Platz. Die Szene hat sich also in einem Zeitkontinuum vollzogen und enthält keinen Zeit- und Handlungssprung. Das Spiel mit dem Zeit-Bild ist in dieser Szene umso raffinierter, weil Deleuze gerade die Verwendung von Spiegelbildern oder die Komposition kristalliner Bildstrukturen als Signal an den Zuschauer beschreibt, sich in einem Zeitbildfilm zu befinden (ebd., S. 97 ff.).
 

Fazit

Die filmhistorischen Beispiele geben nur einen kleinen Eindruck, wie Regisseure und ihre Teams auf vielfältige Weise die Möglichkeiten eigenständiger filmischer Weltkonstruktionen nutzten, um neue Verfahren zu entwickeln, äußeres Geschehen und Gedankenabläufe, Realismus und Imagination, zusammenzubringen. Christopher Nolan nahm in seinem Film Interstellar (USA/GB 2014) Kubricks Ideen aus 2001: Odyssee im Weltraum wieder auf und führte sie im Rahmen des Science-Fiction-Genres weiter. Heute setzen Regisseure wie Adam McKay oder Paul Thomas Anderson die Bild-Ton-Montage-Experimente, mit denen einst Autorenfilmer wie Jean-Luc Godard, Chris Marker oder Alexander Kluge intellektuelle Denkmuster filmisch visualisierten, im aktuellen Kino und Streaming in ungleich publikumswirksamerer Weise fort.

Das Weltkino hält also ausreichend Anschauungsmaterial bereit, um in der Filmbildung Filmkunst auch als Bildungsangebot reflektieren zu können.
 



1) Die Ausführungen gründen sich auf einen Vortrag, gehalten im Rahmen der Tagung School‘s On! – Digitale Spielräume für die moderne Medienbildung, gemeinsam veranstaltet vom Projekt „Digital kompetent im Lehramt (DiKoLa)“ und dem Ergänzungsstudiengang „Medienbildung“ am Zentrum für Lehrer*innenbildung sowie der Abteilung Medien- und Kommunikationswissenschaften am Institut für Musik, Medien- und Sprechwissenschaften der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

 

Literatur:

Barg, W. C.: BREAKING TIME. Innovatives und traditionelles Erzählen in aktuellen Fernsehserien. In: Medienconcret – Erzählwelten 3.0. Köln 2015

Beiler, F.: Filmbildung. In: A. Geimer/C. Heinze/R. Winter (Hrsg.): Handbuch Filmsoziologie. Wiesbaden 2019, S. 1 –2 2

Bergala, A.: Kino als Kunst. Filmvermittlung in der Schule und anderswo. Bonn 2006; zitiert in: Kunst der Vermittlung. Aus den Archiven des Filmvermittelnden Films, o. J. Abrufbar unter: www.kunst-der-vermittlung.de

Bergala, A./Henzler, B.: „Il les conduit ailleurs“. Gespräch mit Alain Bergala zu Cinéphilie, Wissenschaft und Pädagogik. In: G. Sommer/V. Hedinger/O. Fahle Hrsg.): Orte filmischen Wissens. Marburg 2011, S. 161 – 175

Breton, A.: Die Manifeste des Surrealismus. Reinbek 1996

Buñuel, L.: Mein letzter Seufzer. Erinnerungen. Berlin 1999

Deleuze, G.: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Frankfurt a. M. 1989

Deleuze, G.: Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt a. M. 1991

Kuchenbuch, T.: Filmanalyse: Theorien – Methoden – Kritik. Stuttgart 2005

Pabst, E. (Hrsg.): A Strange World. Das Universum des David Lynch. Kiel 2004

Sanders, O.: Das Gehirn ist eine Leinwand – über Zusammenhänge von Einbildungskräften und Zeitbildern in Deleuzes Kinophilosophie. In: D. Schuhmacher-Chilla/N. Ismail/E. Kania (Hrsg.): Image und Imagination. Transformationen der Sichtbarkeit in der bildenden Kunst. Oberhausen 2011, S. 31–42

Schiller, F.: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Berlin 2015. Erstdruck: Die Horen (Tübingen), 1795, Hefte 1, 2 und 6

Walberg, H.: Film-Bildung im Zeichen des Fremden. Ein bildungstheoretischer Beitrag zur Filmpädagogik. Bielefeld 2011