Die weibliche Lust an der Darstellung weiblicher Opfer

„A Friend of the Family“

Jana Papenbroock

Jana Papenbroock studierte Film an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Neben ihrer freien Prüftätigkeit für die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) arbeitet sie als Dokumentarfilmemacherin.

Programm A Friend of the Family
 Krimi, USA 2022
SenderMagentaTV, ab 01.12.2023

Online seit 04.11.2023: https://mediendiskurs.online/beitrag/die-weibliche-lust-an-der-darstellung-weiblicher-opfer-beitrag-1124/

 

 

Ein Evergreen im Fernsehen ist das True-Crime-Genre. Entgegen der realen Geschlechterverhältnisse der Opfer durch Mord- und Totschlag (in den USA sind die statistisch häufigsten Mordopfer Schwarze Männer) werden im Fernsehen überwiegend weiße Frauen als Opfer repräsentiert, die entweder sexualisierten Gewaltverbrechen oder klassischen Femiziden im häuslichen Kontext erliegen. Es wäre ein Trugschluss, die sekundäre Viktimisierung der Frauen, deren Tod zum Gegenstand von Unterhaltung erhoben wird, allein einem patriarchal-misogynen Begehren männlicher Rezipienten zuzuschreiben. Den größten Anteil der True-Crime-Rezipient:innen machen in den USA nämlich weiße Frauen (vgl. Vicary/Fraley 2010) ohne höhere Bildungsabschlüsse aus (ca. 73 % Publikumsanteil [vgl. Boling/Hull 2018]). Es kursieren unterschiedliche Theorien, warum Frauen den Angriff gegen sie als Zuschauerinnen begehren. Der Psychiater Frantz Fanon entwickelte in den 1960er-Jahren die Theorie vom Stereotyp als Phobie und Fetisch. Er untersuchte, dass Schwarze Rezipient:innen sich ebenfalls mit weißen Protagonist:innen identifizierten, die Schwarzen Darsteller:innen Gewalt zufügten, denn die weißen Akteur:innen hatten die Macht, den Schwarzen einen durch die Mehrheitsgesellschaft anerkannten Wert zuzuweisenund sei es durch Gewalt gegen sie (das Kino war in den 1950er- bis 1960er-Jahren noch stark durch rassistische Stereotype geprägt). Auf die Rolle der Frau in einer patriarchalen Kultur bezogen, ließe sich übertragen, dass Gewalt gegen Frauen sowohl ein zentraler Gegenstand weiblicher Angst ist als auch Fetischcharakter hat. Zusätzlich nimmt sie eine erhebliche Rolle in der Unterhaltungsindustrie ein, erhält also gesellschaftlichen Wert. So kommt diese – eigentlich autodestruktive – Rezeptionshaltung zustande, in der Frauen, vielleicht vergleichbar mit dem Stockholm-Syndrom, lustvoll gespannt den ängstigenden Geschichten von traumatischer, in der Regel tödlicher Gewalt gegen sie lauschen.

A Friend of the Family arbeitet mit diesem irrational wirkenden Begehren der True-Crime-Rezipientinnen, kanalisiert es aber in eine andere Richtung. Unter der Regie von u. a. Eliza Hittman und Rachel Goldberg kommt zu Beginn der Miniserie zunächst das überlebende Opfer, Jan Broberg, zu Wort. In einer dokumentarischen Aufnahme führt sie in ihre Geschichte ein, die sich in den 1970ern zugetragen hat. Anstatt der sonst im True Crime üblichen Materialmischung aus dokumentarischen und nachinszenierten Aufnahmen, Interviews mit Betroffenen und Expert:innen sowie Polizei- und Überwachungsvideos, die Authentizität zu konstruieren versuchen, ist A Friend of the Family als durchinszenierte Spielfilmserie gestaltet. Ästhetisch lehnt sie sich dabei an US-amerikanische Fernsehserien wie The Waltons, The Partridge Family oder The Brady Bunch an. Das Schauspiel klebt etwas behäbig am Drehbuch wie in Telenovelas, den typischen Fernsehhumor der 1970er zitierend, als noch „canned laughter“ (Lachen aus der Dose) eingespielt wurde, mit beeindruckend detailgetreuem Kostümbild und Kulisse. Während die referenzierten 70er-Jahre-Serien stets eine heile, fröhliche Welt behaupteten, zeigt A Friend of the Family die Brutalität der realen damaligen Geschlechterverhältnisse. Von ökonomisch abhängigen, devoten Ehefrauen, denen eine Scheidung nur noch mehr Unglück und Marginalisierung bringt, über naive Töchter, die ein leichtes, manipulierbares Opfer sexueller Gewalt älterer Männer bilden, bis hin zu religiösen Gemeinden, die den Missbrauch verdecken und so die Täter schützen.
 

Trailer A Friend of the Family (MagentaTV Exclusive, 01.12.2023)



Die reale Geschichte um die mehrfache Entführung und den pädosexuellen Missbrauch der 12- bis 16-jährigen Jan Broberg durch den Nachbarn und Familienfreund weist einerseits typische Merkmale geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Mädchen und Kinder im Allgemeinen auf: Der Missbrauch findet in der unmittelbaren Umgebung durch vertraute Personen statt (wie in der weit überwiegenden Zahl der Missbrauchsdelikte), das betroffene Kind spricht nicht darüber, und der Fall kann erst nach Jahren geklärt werden. Untypisch hingegen ist, dass im Falle der Broberg-Familie auch der Vater und die Mutter mit dem Täter sexuelle Beziehungen hatten. So changiert die Serie zwischen ihrem aufklärerischen Impetus und der Skurrilität des bizarren Falles gewissermaßen zwischen zwei Polen: einerseits dem des für True Crime typischen Sensationalismus und andererseits dem des Anspruchs, das Genre emanzipatorisch zu appropriieren.

Die Serie endet mit einer entschieden politischen Note in Form einer dokumentarischen Aufnahme von Jan Broberg, die als erwachsene Frau dem Täter im Gericht gegenübersteht und das geschehene Unrecht der Justiz zuführt. Sie wirkt dabei ruhig und selbstbewusst, nicht wie ein Opfer, sondern wie eine souveräne Akteurin ihres Lebens. Das ist der größte progressive Unterschied zur üblichen Repräsentationspraxis im True Crime: Das Opfer wird nicht als Objekt des Täters verewigt, sondern als Autorin ihrer eigenen Geschichte und als Subjekt der Rechtsprechung.
 

Literatur:

Vicary, A. M./Fraley, R. C.: Captured by True Crime: Why Are Women Drawn to Tales of Rape, Murder, and Serial Killers?In: Social Psychological and Personality Science 1(1), London 2010, S. 81-86. Abrufbar unter journals.sagepub.com (letzter Zugriff: 01.12.2023)

Boling, K. S./Hull, K.: Undisclosed Information –Serial Is My Favorite Murder: Examining Motivations in the True Crime Podcast Audience. In: Journal of Radio & Audio Media, 25 (1), London 2018, S. 92-108. Abrufbar unter www.researchgate.net (letzter Zugriff: 01.12.2023)

Weiterführende Literatur:

Naseer, S./Aubin, C. St.: True crime podcasts are popular in the U.S., particularly among women and those with less formal education. In: Pew Research Center, 20.06.2023. Abrufbar unterwww.pewresearch.org (letzter Zugriff: 01.12.2023)
 


Freigegeben ab …
 

Die Serie spricht durch ihre Machart, die durch einen langsamen Erzählrhythmus und ein artifizielles Schauspiel geprägt ist, ein erwachsenes Publikum an. Das Setting der 1970er-Jahre in einer konservativ-mormonischen Gemeinde in einer US-amerikanischen Kleinstadt bietet eine Grunddistanz für hiesige junge Zuschauende zur dargebotenen Geschichte des pädosexuellen Missbrauchs einer 12-Jährigen durch den Nachbarn und vermeintlichen Familienfreund. Trotz des belastenden Themas und der generellen Anschlussfähigkeit des kindlichen Opfers spart die Serie durch entscheidende filmische Ellipsen ausgesprochen ängstigende oder verstörende Darstellungen von Gewalt und Gewaltfolgen aus. Es bleibt bei Andeutungen, die audiovisuell nicht ins Explizite übergehen. Der Missbrauch selbst wird nicht nachinszeniert, sondern lediglich dialogisch nacherzählt. Die distanzierenden zeitlichen und räumlichen Faktoren sowie das spezifische Milieu verhindern eine unmittelbare Übertragung in die Lebenswelt ab 12-Jähriger und so auch eine Angstübertragung. Psychische und sexuelle Gewalt wirkt zu keinem Zeitpunkt vorbildhaft oder attraktiv. Der Täter ist deutlich als antipathische Figur mit Psychopathie gekennzeichnet. Diskutiert wurde im Prüfausschuss die teils tendenziöse und ins Dämonisierende neigende Darstellung des pädophilen Täters als manisch-depressiv und psychopathisch. Da jene tendenziösen Beschreibungen jedoch von den betroffenen Eltern ausgehen, die nachvollziehbar wütend sind, wurden sie als hinreichend kontextualisiert gewertet, um nicht pauschal diskriminierend gegenüber Menschen mit Psychopathologien zu wirken.

Der Grundimpetus der Serie ist aufklärerisch, die Erzählperspektive entspricht der Sicht des Opfers. Die verbal nacherzählten Beschreibungen des Missbrauchs sind kurzzeitig belastend, jedoch werden sie in einer zurückhaltenden Weise vermittelt, die nicht schockierend, retraumatisierend oder ängstigend auf über 12-Jährige wirken. Eine sozialethische Einordnung der Übergriffe erfolgt durch die Orientierung bietende Figur des FBI-Agenten Pete. Alle Folgen wurden daher für das Hauptabendprogramm, verbunden mit einer Altersfreigabe ab 12 Jahren, freigegeben.
 

Bitte beachten Sie:
Bei den Altersfreigaben handelt es sich nicht um pädagogische Empfehlungen, sondern um die Angabe der Altersstufe, für die ein Programm nach Einschätzung der Prüferinnen und Prüfer keine entwicklungsbeeinträchtigenden Wirkungsrisiken mehr bedeutet.

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Sendezeiten und Altersfreigaben

 

Hinweis:
Pay-TV-Anbieter oder Streamingdienste können eine Jugendschutzsperre aktivieren, die von den Zuschauer:innen mit der Eingabe einer Jugendschutz-PIN freigeschaltet werden muss. In dem Fall gelten nicht die üblichen Sendezeitbeschränkungen und Schnittauflagen. Weitere Informationen zu Vorschriften und Anforderungen an digitale Vorsperren als Alternative zur Vergabe von Sendezeitbeschränkungen sind im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (§ 5 Abs. 3 Nr. 1; § 9 Abs. 2 JMStV) sowie in der Jugendschutzsatzung der Landesmedienanstalten (§ 2 bis § 5 JSS) zu finden.

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Jugendschutz bei Streamingdiensten