Ein jüdischer Kommissar mit sechstem Sinn

Die Krimiserie „The Calling“

Jana Papenbroock

Jana Papenbroock studierte Film an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Neben ihrer freien Prüftätigkeit für die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) arbeitet sie als Dokumentarfilmemacherin.

Programm The Calling
 Krimi, USA 2022
SenderWarner TV Serie, Sky, WOW, ab 29.02.2024

Online seit 29.02.2024: https://mediendiskurs.online/beitrag/ein-juedischer-kommissar-mit-sechstem-sinn-beitrag-1124/

 

 

The Calling bespielt das Genre der Krimiserie mit einer ungewöhnlichen Variation in der Figurenzeichnung. Der begabte, verschrobene NYPD-Detektiv Avi Avraham ist auch orthodoxer Jude und nutzt seine Religiosität, um Fälle zu lösen und bei allem Grauen, das er tagtäglich sieht, ein Mensch zu bleiben. Seine Kollegin Janine will von ihm lernen und folgt ihm in der 1. Staffel, während er mithilfe von Intuition, Glaube, Menschlichkeit, aber teils auch mit unangemessen wirkendem Zorn die Missetaten der Verbrecher dem Recht zuzuführen versucht. Dabei geht es ihm nicht nur um justizielle Gerechtigkeit, sondern auch um spirituelle Erlösung.

Die Serie ist eine Literaturadaption des Kriminalromans The Missing File (2011) des israelischen Autors Dror Mishani. Der für Justizserien wie Ally McBeal und Boston Legal bekannte Anwalt, Drehbuchautor und Filmproduzent David E. Kelley schrieb die Drehbücher der Serie und verlegte den Schauplatz des Romans von einer Tel Aviver Vorstadt nach New York. Die ersten Episoden wurden von Barry Levinson (bekannt für Rain Man und Wag the Dog) inszeniert. Levinson stellt ein nostalgisches New York der späten 80er und frühen 90er dar, in dem erfolglose Autoren noch mitten in der Stadt in komfortablen Apartments wohnen und jahrelang über ihren Büchern grübeln konnten. Oder sich die Nachbarn eines Hauses untereinander kannten und einander Kuchen backten, wenn einer es gerade schwer hatte.

Die Zeit, die Levinson sich nimmt, um Stimmungen, Nebenfiguren, Schauplätze und Subplots auszuentwickeln, ist erfrischend angesichts des inzwischen üblich gewordenen schnellen Erzählrhythmus, der stets zwischen mehreren parallel laufenden Handlungssträngen changiert, worunter bisweilen die Darstellungen von Milieu und charakterlicher Mehrdimensionalität leiden. The Calling erzählt einen Kriminalfall nach dem anderen aus und folgt den Beziehungen der Ermittler:innen, ohne die Erwartung der naheliegendsten potenziellen Love-Interests zu bedienen. Bei all dem wirkt die Figur des Avi seltsam opak und etwas aus der Zeit und dem Raum gefallen, was zunächst seinen Reiz ausmacht. Avi geht in die Synagoge, hält ehrenamtlich Todeswachen für Verstorbene ohne Angehörige, liest die Thora und betet. Andererseits ist er aber nicht so orthodox, dass er den direkten Blick oder den Körperkontakt zu Frauen vermeiden würde. Er arbeitet obsessiv und ohne persönliche Distanz an seinen Fällen, aus denen sein ganzes Leben zu bestehen scheint.
 

Trailer The Calling (Warner TV Deutschland, 12.02.2024)



Während die Hauptfigur in den ersten Episoden noch neugierig macht – ebenso der Einblick in den Alltag orthodoxer Juden –, verblasst sie im Verlauf der ersten Staffel und entpuppt sich als weniger facettenreich als zunächst angedeutet. Auch wird deutlich, dass hinter Avis Gabe und Motivation nicht sein Glaube, sondern das Trauma des frühen Verlusts seines Vaters steckt, dessen Mord noch immer unaufgeklärt ist. Das orthodoxe Judentum fungiert eher als exotische Kulisse und tritt nicht als Thema an sich hervor. Dem Potenzial, mögliche Wechselwirkungen der Religion mit seiner beruflichen Tätigkeit auszuloten, wird nicht nachgespürt. An einigen Stellen schlägt Avi deutlich über die Stränge, etwa wenn er Delinquenten lautstark zu verstehen gibt, dass sie gesündigt und Gottes Zorn auf sich gezogen haben, was zu keinerlei Reibung mit seinen Kollegen oder seiner Chefin führt und insgesamt merkwürdig folgenlos bleibt.

Dafür ist die Besetzung der Figuren, u. a. Avis Chefin, großartig. Auch der erste längere Fall um einen häuslichen Totschlag ist spannend inszeniert: Durch eine Reihe falscher Fährten und die uneindeutige bis unheilvolle Figurenzeichnung wird das Verdachtsmoment auf das halbe Ensemble ausgeweitet. Ungewöhnlich ist auch die Darstellung der Polizei durch das Prisma einer „Vorzugsrealität“: extrem moralisch, integer, hochsensibel und selbstkritisch gegenüber übermäßiger Polizeigewalt. Vielleicht sollte hier Inspiration für die reale Polizei der USA geliefert werden.
 


Freigegeben ab …
 

Die Kriminalserie mit mystischen Elementen vermittelt durch die außerordentliche Ermittlungskompetenz des Detektivs Avi eine grundsätzliche Aufklärungsgewissheit. Avi agiert zwar nicht immer zeitgemäß rational, aber doch durchweg moralisch. Er hat einen festen Glauben an die Menschlichkeit und bietet als Figur zusammen mit seinem Team sozialethische Orientierung. Die Stimmung einiger Folgen ist unheilvoll und der Spannungsbogen teils hoch. Die Episoden weisen jedoch keine expliziten, spekulativen Bilder auf. Die Darstellungen von Gewalt und Gewaltfolgen sind genretypisch und der Angstaufbau mündet nicht in Schockaufdeckungen, sodass der Prüfausschuss keine Bedenken einer möglichen entwicklungsbeeinträchtigen Wirkung hatte. Er gab die 1. Staffel antragsgemäß ab 12 Jahren für das Hauptabendprogramm frei.
 

Bitte beachten Sie:
Bei den Altersfreigaben handelt es sich nicht um pädagogische Empfehlungen, sondern um die Angabe der Altersstufe, für die ein Programm nach Einschätzung der Prüferinnen und Prüfer keine entwicklungsbeeinträchtigenden Wirkungsrisiken mehr bedeutet.

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Sendezeiten und Altersfreigaben

 

Hinweis:
Pay-TV-Anbieter oder Streamingdienste können eine Jugendschutzsperre aktivieren, die von den Zuschauer:innen mit der Eingabe einer Jugendschutz-PIN freigeschaltet werden muss. In dem Fall gelten nicht die üblichen Sendezeitbeschränkungen und Schnittauflagen. Weitere Informationen zu Vorschriften und Anforderungen an digitale Vorsperren als Alternative zur Vergabe von Sendezeitbeschränkungen sind im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (§ 5 Abs. 3 Nr. 1; § 9 Abs. 2 JMStV) sowie in der Jugendschutzsatzung der Landesmedienanstalten (§ 2 bis § 5 JSS) zu finden.

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Jugendschutz bei Streamingdiensten