„Eine Atmosphäre der Verrücktheit“

Die dreiteilige Dokumentation „Natascha Kampusch – Leben in Gefangenschaft“ über den sogenannten Fall Natascha Kampusch

David Assmann

David Assmann ist freier Filmkritiker, Filmemacher und Filmwissenschaftler. Er ist Mitglied des Auswahlgremiums von Berlinale Generation, der Jury für den Kinder & Jugend Grimme­ Preis und seit 2018 Prüfer bei der Frei­willigen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).

Programm Natascha Kampusch – Leben in Gefangenschaft
 Dokumentation, USA/DK 2022
SenderMagentaTV, ab 04.08.2023

Online seit 22.08.2023: https://mediendiskurs.online/beitrag/eine-atmosphaere-der-verruecktheit-beitrag-1124/

 

 

Im medialen Umgang mit Gewaltverbrechen hat in den letzten Jahren ein Umdenken stattgefunden. Die Berichterstattung soll nicht länger den Tätern Bekanntheit verschaffen und die namenlosen Opfer unter den Tisch fallen lassen. So tauchte etwa der Name des Attentäters von Hanau in den Medien kaum auf, während die Kampagne #saytheirnames das Gedenken an die Opfer präsent hält. Ein löblicher Wandel, der allerdings nur unter der Bedingung sinnvoll ist, dass die Opfer nicht mehr leben. Anderenfalls ist ihnen nichts mehr zu wünschen als Anonymität.

Der Name Wolfgang Priklopil wird nicht unbedingt jedem geläufig sein. Im Fall von Natascha Kampusch hingegen gibt es kaum jemanden, der nicht Bilder im Kopf und vielleicht sogar eine Meinung oder Theorie dazu hat. Dabei gibt es den „Fall Natascha Kampusch“ eigentlich gar nicht, erklärt die Psychologin Sara Landström in der bemerkenswerten US-amerikanisch-dänischen Dokumentation Natascha Kampusch – Leben in Gefangenschaft. Es gibt ihn nur, weil sich der Täter Wolfgang Priklopil durch Suizid einer Strafe entzogen hat.

Hätte es einen Prozess gegeben, dann wäre es der Fall Priklopil. Er ist derjenige, der vor Gericht gestellt werden sollte. Nicht sie.“

Die dreiteilige Dokumentation arbeitet den Fall sachlich und differenziert auf, schildert im ersten Teil Nataschas Kindheit und die Entführung: Die zehnjährige Natascha hatte sich am Morgen mit ihrer Mutter gestritten, als sie auf dem Schulweg von einem Mann in seinen weißen Kastenwagen gezerrt wurde. Die Suche läuft an, eine Augenzeugin, selbst Schulkind, meldet sich und kann Hinweise auf das Fahrzeug geben. Die Ermittler klingeln auch bei Priklopil, der ihnen jedoch nicht verdächtig erscheint. Einige Wochen später erhalten sie einen weiteren Hinweis, der Priklopil schwer belastet. Die Polizei geht dem jedoch nicht nach, da Priklopil ja bereits überprüft wurde.
 

Trailer Natascha Kampusch – Leben in Gefangenschaft (MagentaTV, 10.08.2023)



Der zweite Teil widmet sich Nataschas achteinhalbjährigem Leben in Gefangenschaft und den weiterhin erfolglos verlaufenden Ermittlungen. Erste Verschwörungstheorien kommen auf. Eine Wiener Boulevardzeitung heuert einen Privatdetektiv an, der herausgefunden haben will, dass Natascha von ihrer Mutter getötet und in einem Teich versenkt wurde. Aufwendige Ausgrabungen bringen keine Beweise ans Licht. Derweil ist Natascha ihrem Peiniger wehrlos ausgeliefert. Um einen Eindruck von der Enge zu vermitteln, wird ihr unterirdisches Verlies für die Dokumentation nach Tatortfotos rekonstruiert. „Es ist genial!“; zeigt sich die heutige Kampusch selbst beeindruckt von dem Nachbau: „Ich bin begeistert – also dafür, dass es um meine Gefangenschaft geht.“ Um ein Täterprofil zu erstellen, lässt sich der Profiler Mark T. Hofmann von Kampusch durch das Modell führen und die Bedingungen ihrer Gefangenschaft schildern: Gewalt gab es nahezu täglich, Nahrung oft tagelang nicht. 99 von 100 Menschen, glaubt Hofmann, hätten diese Tortur nicht überlebt.

Erschütternderweise ist es jedoch nicht dieser zweite Teil, der am beklemmendsten und abgründigsten ist, sondern der dritte, in dem es um die juristische und mediale Aufarbeitung des Falles geht.

Ich hatte erwartet, in eine Welt hinauszutreten voller Gerechtigkeit, voller Verständnis“, erinnert sich Kampusch. „Doch das war nicht der Fall.“

In Ermangelung eines Täters fokussiert sich das enorme öffentliche Interesse ganz auf das Opfer. Wilde Spekulationen schießen ins Kraut. Zwei Wochen nach ihrer Flucht entscheidet sich Kampusch für die Flucht nach vorne und gibt ein TV-Interview, das international für Furore sorgt. Auf einmal ist es, als stehe sie vor Gericht. Erscheinen ihre Aussagen glaubwürdig? Wirkt sie wie ein traumatisiertes Opfer? Hat sie irgendwelche Details verschwiegen? Ob sie das Interview noch einmal geben würde, wird Kampusch in der Doku gefragt. „Ja“, sagt sie nach leichtem Zögern. „Aber mit dem Wissen, dass Menschen einfach grausam sind.“

Was für Kampusch folgt, ist ein jahrelanger Spießrutenlauf. Die Medien verletzen immer wieder ihre Privatsphäre und verlieren sich in wildeste Spekulationen. Im Internet wird blanker Hass über sie ausgeschüttet. Fragwürdigen Persönlichkeiten aus Politik und Justiz dient sie zur Profilierung. Eine unabhängige Untersuchungskommission wird eingerichtet, der unter anderem die ehemaligen Präsidenten des österreichischen Verfassungsgerichtshofs und des Obersten Gerichtshofs angehören. Die Erkenntnisse dieser Kommission beschränken sich auf wirre, an die Medien durchgestochene Theorien: Priklopil könne kein Einzeltäter gewesen sein, Kampusch sei nicht Opfer, sondern Mittäterin gewesen oder von ihrer Mutter an einen Pädophilen-Ring verkauft worden. Ein Mitglied der Kommission beauftragt einen Polizisten, Grundschulen nach dem Kind zu durchkämmen, das Kampusch angeblich in Gefangenschaft zur Welt gebracht hätte. Eine „Atmosphäre der Verrücktheit“ habe den Fall stets umgeben, erinnert sich ein Wiener Zeitungsjournalist.

Ungewöhnlich ist, mit welcher Transparenz die Dokumentation ihren eigenen ambivalenten Charakter beleuchtet. Kampusch, die laut eigener Aussage schnell erkannt hat, dass die Medien ihr Feind sind und die nichts lieber täte, als die Opferrolle ein für alle Mal hinter sich zu lassen, wird noch einmal vor die Kameras gezerrt, weil ihre Geschichte nun einmal so ziemlich alles in den Schatten stellt, was an True Crime im Fernsehen zu sehen ist. Ihr geht es ersichtlich darum, die Kontrolle über ihre Geschichte zurückzugewinnen, aber dafür muss sie sich erneut all den grenzüberschreitenden Fragen aussetzen, die sie nur immer wieder auf die Opferrolle festlegen. Jedoch: der Film respektiert, zumindest in gewissem Maße, ihre Grenzen. Profiler Hofmann verkneift sich mehr als einmal eine naheliegende Folgefrage, weil er Kampuschs Schweigen als Antwort akzeptiert.

Der dritte Teil beginnt mit der Anweisung aus dem Off, Kampusch solle die Fragen so beantworten, dass sie auch ohne die Frage verständlich seien, worauf Kampusch bekennt: „Ich will ehrlich sein, ich hasse diese Methode. Wirklich. Zutiefst.“ Es ist interessant, dass dieser Austausch im Film verblieben ist: ein bemerkenswerter Moment der Ermächtigung, in dem sich der Interviewgast einer Regieanweisung widersetzt. Aber ganz so weit kommt der Film seiner Protagonistin dann doch nicht entgegen: Das Interview wurde letztlich auf die vorgesehene Weise durchgeführt.
 


Freigegeben ab …
 

Der FSF lagen die drei Teile der Dokumentation vor und wurden in Bezug auf ihr ängstigendes Potenzial unterschiedlich bewertet. Insgesamt verfügt die Dokumentation über einen sachlichen und differenzierten Grundton. Der erste Teil, der sich auf den genauen Ablauf der Entführung und die ersten Ermittlungstage der Polizei konzentriert, wurde jedoch als ängstigend für unter 16-Jährige eingestuft. Insbesondere die starke Alltagsnähe des Verbrechens und das junge Alter des Opfers wurden als anschlussfähig für zuschauende Kinder gewertet. Da der Tatverlauf äußerst brutal war und dies in dem ersten Teil verbal auch detailreich geschildert wird, konnte schließlich eine übermäßige Ängstigung für 12-Jährige nicht ausgeschlossen werden.

Die beiden darauffolgenden Teile erhielten hingegen eine Freigabe ab 12 Jahren. Zwar wird weiterhin die Brutalität ihrer Gefangenschaft deutlich, doch sorgt die Betonung auf Natascha Kampuschs Stärke und Selbstbestimmtheit als erwachsene Frau für Entlastung. Dies zeigt sich auch in ihrer eigenen Grenzsetzung über die zu vertiefenden Themen. Die dezente Bildebene, die sich meist nur auf Andeutungen beschränkt, bietet darüber hinaus Distanzierungsangebote für ab 12-Jährige im Hauptabendprogramm.

 

Bitte beachten Sie:
Bei den Altersfreigaben handelt es sich nicht um pädagogische Empfehlungen, sondern um die Angabe der Altersstufe, für die ein Programm nach Einschätzung der Prüferinnen und Prüfer keine entwicklungsbeeinträchtigenden Wirkungsrisiken mehr bedeutet.

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Sendezeiten und Altersfreigaben

Hinweis:
Pay-TV-Anbieter oder Streamingdienste können eine Jugendschutzsperre aktivieren, die von den Zuschauer:innen mit der Eingabe einer Jugendschutz-PIN freigeschaltet werden muss. In dem Fall gelten nicht die üblichen Sendezeitbeschränkungen und Schnittauflagen. Weitere Informationen zu Vorschriften und Anforderungen an digitale Vorsperren als Alternative zur Vergabe von Sendezeitbeschränkungen sind im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (§ 5 Abs. 3 Nr. 1§ 9 Abs. 2 JMStV) sowie in der Jugendschutzsatzung der Landesmedienanstalten (§ 2 bis § 5 JSS) zu finden.

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Jugendschutz bei Streamingdiensten