Grenzfälle und Grauzonen
Eindrücke vom gemeinsamen Workshop der KJM, FSM und FSF zu Reality-Formaten
Ganz am Ende der Veranstaltung, kurz bevor man wieder in den wechselhaften Berliner Frühling entströmte, brachte der KJM-Vorsitzende Dr. Marc Jan Eumann die gemeinsame Mission noch einmal klar und simpel auf den Punkt:
Wir versuchen Schutz für diejenigen zu organisieren, die unseren Schutz ganz besonders brauchen.“
Diese Prägnanz war wohltuend angesichts der enormen Kleinteiligkeit und Komplexität, mit der das Thema des Tages in den vorangegangenen fünf Stunden dargelegt, analysiert und diskutiert worden war. „Geschmacksfrage oder Gefährdungsrisiko? Zur Bewertung von potenziell desorientierendem Verhalten in Reality-Formaten“ lautete der Titel dieser aus zwei Vorträgen und drei Workshops bestehenden Fortbildungsveranstaltung, zu der FSF, FSM und KJM in den Konferenzsaal des Hotels Aquino geladen hatten.
Die Komplexität wurde freilich durch den Untersuchungsgegenstand vorgegeben. Reality-TV mag oftmals als minderwertig und primitiv angesehen werden, aus medienwissenschaftlicher – und jugendschützerischer – Perspektive handelt es sich jedoch um ein hochkomplexes und schwer zu umreißendes Feld. Zunächst einmal bedeutet Reality-TV lediglich, dass „reale Menschen“ zum Gegenstand von Fernsehunterhaltung gemacht werden. In der Praxis resultiert daraus eine sich selbst kannibalisierende Formaterfindungsfabrik, deren hervorstechende Eigenschaft die Grenzüberschreitung ist: zwischen Fiktion und Realität, Authentizität und Inszenierung, Information und Unterhaltung, Öffentlichkeit und Privatheit, Publikum und Akteur*innen, Alltag und Exotik, Professionalismus und Amateurisierung, „Promis“ und „normalen Menschen“. Auf der Suche nach immer neuen Wahrnehmungsformen und Formaten ist die Hybridisierung, das Verwischen von Grenzen und Vermischen unterschiedlicher Gattungs- und Genremerkmale, das Grundprinzip von Reality-TV.
Dr. Scheithauer: Reality-TV fördert nicht die Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen
Seit seinem Aufkommen in den ausgehenden 1980er-Jahren genießt das Reality-TV eine andauernde Hochkonjunktur und prägt, wie Dr. Herbert Scheithauer, Professor für Entwicklungspsychologie und Klinische Psychologie an der FU Berlin, in seinem Vortrag zeigte, maßgeblich das aktuelle Programm insbesondere der deutschen Privatsender. Zum Erfolg dieser Formate trägt häufig bei, dass sie thematisch und ästhetisch auf eine junge Zielgruppe zugeschnitten sind, die sie – in einer weiteren Grenzüberschreitung – parallel mit Auftritten in den Sozialen Medien erreichen. Vor allem Scripted-Reality-Formate, also fiktionale Stoffe, die mit Laiendarsteller*innen und einer dokumentarischen Anmutung inszeniert werden, gewinnen so eine zusätzliche Anbindung an die Realität, die das Gezeigte noch authentischer erscheinen lassen kann. Die Unterscheidung zwischen real/dokumentarisch und fiktional/inszeniert, die für das Verständnis, die Verarbeitung und die Einordnung des Gezeigten essenziell ist, wird im Reality-TV generell systematisch erschwert.
Selbstverständlich hat die Rezeption von Reality-TV nicht nur negative Effekte, aber für den Jugendschutz stehen naturgemäß die abträglichen und entwicklungsbeeinträchtigenden Wirkungen im Fokus, etwa die Beförderung von Klischees, Vorurteilen und Stereotypen oder die Übernahme von antisozialem Verhalten und problematischen Werte- und Körperbildern. Sehr erhellend war in diesem Zusammenhang die entwicklungspsychologische Perspektive, die Prof. Scheithauer in seinem Vortrag einbrachte. Ihm zufolge könne die Kompetenz zur Unterscheidung zwischen fiktionalen und nichtfiktionalen Programminhalten, die im Verlauf der Kindheit erworben wird, durch die gezielte Verschleierung dieser Grenze in Scripted-Reality-Formaten erschwert und sogar verzögert werden. Insgesamt zeige sich, dass hoher Konsum von Reality-TV-Inhalten nicht etwa die Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen fördere, sondern die negativen Effekte noch verstärke. Studien belegten, dass der Konsum von Reality-Shows mit hohem Aggressionsgehalt dazu führen könne, dass Menschen in ihrem wirklichen Leben auch selbst aggressiver werden. Anderen Studien zufolge neigten Vielseher*innen von Reality-TV langfristig dazu, die verzerrte Medienrealität auf ihre eigene Realitätswahrnehmung zu übertragen, Einstellungen zu übernehmen und sich in ihrem Verhalten daran zu orientieren. Mit der Forderung nach qualifizierter Medienkompetenzförderung und einem gesellschaftlichen Diskurs über die Frage, „ob wir solche Formate in der Art und Weise haben wollen oder nicht“, schloss Prof. Scheithauer seinen Vortrag ab.
Dr. Sūna: Reality-TV erweitert Medienkompetenz der Zuschauenden
Scheithauers Einschätzungen hoben sich doch eher ernüchternd ab vom vorangegangenen Vortrag der Medienwissenschaftlerin Dr. Laura Sūna von der Universität Siegen, die über „Emotionsgemeinschaften der Zuschauer*innen von Reality-Formaten“ gesprochen hatte. Auf der Basis einer quantitativen Studie mit Teilnehmenden im Alter von 17 bis 35 Jahren, führte sie am Beispiel der Sendung Germany’s Next Topmodel aus, dass Reality-TV als eine Art „Affektgenerator“ fungiert, der sein Publikum stark emotionalisiert und affiziert. Die dabei ausgelösten Gefühle könnten durchaus zwiespältig sein, wie etwa Fremdscham oder auch das schlechte Gewissen, das mit dem „guilty pleasure“ des Trash-TV-Konsums einhergeht. Die Gefühle motivieren das Publikum zum Einschalten und lassen sie medienbezogene Emotionsgemeinschaften bilden, die Dr. Sūna je nach Emotion und Funktion in drei Gruppen unterschied:
- Emotionsgemeinschaften der Zusammengehörigkeit und Freundschaft, die gemeinsames Fernsehen als gemütliches Ritual zelebrieren. Das Verhältnis zur Sendung ist hier relativ ungebrochen, in erster Linie dient sie aber dem sozialen Kontakt und Zugehörigkeitsempfinden.
- Läster-Gemeinschaften, die Fernsehen zur sozialen Distinktion nutzen. Hier begeben sich die Zuschauenden in eine Arena der mediatisierten Moralisierung, in der Fragen der Moral und des gesellschaftlich Zulässigen ausgehandelt werden. Die Zuschauenden distanzieren sich durch ironische Rezeption und Kommentierung von der Sendung und bewerten die Figuren oftmals anhand ihres Körpers, Bildungsniveaus oder ihrer Ethnizität.
- Scham-Gemeinschaften, die die affektiven Anstrengungen beim Fernsehen gemeinsam bewältigen. Die Zuschauenden spüren auf einer affektiven Ebene das Spannungsverhältnis zwischen dem Spaß der Rezeption und der Bewertung solcher Medientexte als schlecht.
Zusammenfassend zog Dr. Sūna ein durchaus positives Fazit und schrieb Reality-TV-Formaten mehrere relevante gesellschaftliche Funktionen zu: Sie verhandelten die Grenzen des Sag- und Zeigbaren und böten Zuschauenden die Möglichkeit, ihre Gruppengrenzen zu bestätigen und Distinktionen zu verarbeiten. Durch die Anschlusskommunikation über gesehene Inhalte werde zudem die Medienkompetenz der Zuschauenden erweitert.
Die Diskrepanz zwischen dieser und der eher kritischen Bewertung durch Prof. Scheithauer ist eventuell auch darauf zurückzuführen, dass er über Kinder und Jugendliche sprach, während sich Dr. Sūna in ihren Ausführungen auf (junge) Erwachsene bezog. Für den Jugendschutz, so viel wurde deutlich, bleibt Reality-TV ein heikles Feld voller Grenzfälle und Grauzonen. Da war die Gelegenheit willkommen, in drei Workshops an konkreten Fällen die Jugendschutzkriterien zu diskutieren und das Besteck zu schärfen.
Workshop FSF: Sexualisierung und Genderklischees
Der von der FSF organisierte Workshop befasste sich anhand dreier Beispiele mit dem Thema Sexualisierung und Genderklischees. In einer Episode der Serie The Bold Type – Der Weg nach oben bekommt eine junge Frau das Yoni-Ei nicht wieder heraus, zu dem ihr eine Freundin geraten hatte. Manche Stimmen in der Diskussion sahen die Gefahr, dass durch die Dominanz des Themas Sex und die Normalisierung von Sextoys Druck auf Heranwachsende ausgeübt werden könnte. Andere sahen die entlastenden Aspekte – erwachsene Frauen mit starkem freundschaftlichem Zusammenhalt, die gleichberechtigt und selbstbestimmt agieren – als ausreichend für eine Tagesprogrammfreigabe an.
Ähnlich gespalten fiel das Meinungsbild im zweiten Fall aus, einem Clip aus der Reality-Show Claudias House of Love, in der mehrere Kandidaten um die Gunst der Textilunternehmerin Claudia Obert buhlen. Nach einer Massage greift Obert einem jungen Mann unversehens in den Schritt, was dieser nervös lachend gutheißt: „Dafür feier’ ich dich wieder!“ Ein Teil der Arbeitsgruppe erkannte darin einen sexuellen Übergriff, der bei umgekehrter Geschlechterkonstellation fraglos Empörung auslösen würde und zudem von der Sendung durch dreifache Wiederholung und Lupenfilter reißerisch ausgeschlachtet werde. Dagegen fand der andere Teil, dass der Kandidat durch die Teilnahme an der Show seine Intimsphäre willentlich preisgegeben habe und sich der Übergriff im Rahmen der vorgegebenen Massagechallenge abspiele.
Auch am dritten Beispiel, einem Musikvideo von Megan Thee Stallion, schieden sich die Geister: ist die Bildsprache extrem sexualisiert und tendenziell pornografisch oder ermächtigend und körperpositiv?
Workshop FSM: Antisoziales Verhalten
Im von der FSM angebotenen Workshop „Unscripted Social Media? Antisoziales Verhalten und problematische Inhalte in Online-Formaten und sozialen Netzwerken“ standen Beispiele rund um verschiedene Reality-Formate wie Promis unter Palmen, Love Island und Ich bin ein Star – Holt mich hier raus! im Mittelpunkt, die verschiedene Formen antisozialen Verhaltens enthalten. In den Social-Media-Videos, Statements, Postings oder Kommentaren wurde deutlich, wie diese Verhaltensweisen – teils von den Protagonist*innen der Formate selbst, teils von der Community – in den sozialen Netzwerken aufgegriffen, diskutiert und verarbeitet werden. Mit Blick auf eine möglicherweise desorientierende Wirkung entspann sich eine rege Diskussion um den Einsatz von Humor und Satire, die Reproduktion problematischen Verhaltens oder die Interaktion und Reichweite auf Social Media. Dabei wurde jedoch auch die Kreativität von Jugendlichen bei der Auseinandersetzung mit problematischen Verhaltensweisen online positiv hervorgehoben. Nicht zuletzt geht es darum, die unterschiedlichen Ansätze von Jugendschutz (Verbot) und Medienpädagogik (Gesprächsangebot) miteinander in Einklang zu bringen.
Workshop KJM: Alkohol- und Drogenkonsum
Der von der KJM organisierte Workshop befasste sich mit den Risiken medialer Darstellung von Alkohol- und Drogenkonsum. Hierzu wurde zunächst auf die bedenkliche Entwicklung hingewiesen, dass der Alkoholkonsum bei Kindern und Jugendlichen in jüngster Zeit ebenso ansteigt wie die damit verbundenen Klinikaufenthalte. Vor diesem Hintergrund sind entsprechende mediale Darstellungen besonders sensibel zu bewerten, vor allem wenn sie so unkritisch und jugendaffin daherkommen wie das erste Beispiel eines live im Frühstücksfernsehen durchgeführten Trinkspiels. Zwar handelt es sich bei den Studiogästen nicht um Identifikationsfiguren, doch ist das Spiel leicht nachzuahmen und erfährt keinerlei Einordnung, im Gegenteil: Die Moderatorin nimmt selbst daran teil. In der Summe wurde darin eine Verharmlosung, Normalisierung und Verherrlichung von Alkoholkonsum gesehen und ein Sendezeitverstoß festgestellt.
Im zweiten Beispiel, einer Reportage über Partytouristen in Kroatien (Spring Break Europe – Feiern bis zum Umfallen), werden zwar auch negative Folgen des Alkoholkonsums sichtbar, aber die positiven Effekte des Alkohols – Senken von Hemmschwellen, Kennenlernen von Menschen, Abbau von Stress – überwiegen klar. Insgesamt bietet die mit stimmungshebender Partymusik unterlegte Sendung nach mehrheitlicher Auffassung der Arbeitsgruppe weniger Aufklärung als eine Einladung zum Mittrinken.
Noch kritischer bewertet wurde eine Trinkspiel-App, in der die Spielenden nicht nur zum Alkoholkonsum, sondern auch zu körperlichen und sexuellen Übergriffen animiert werden.
Kontrovers verlief die Diskussion um einen Ausschnitt aus der Sendung Das Duell um die Welt – Team Joko gegen Team Klaas, in dem ein Gast in Holland einen riesigen Haschkeks verspeist. Einerseits seien die Moderatoren ausgesprochen jugendaffin, andererseits würden hier die negativen Aspekte des Drogenkonsums durchaus abschreckend deutlich. Dass es sich um eine in Deutschland illegale Droge handelt, sei eher als entlastend zu werten, da sie weniger leicht verfügbar ist als Alkohol. Sollte Cannabis, wie von der Bundesregierung angestrebt, hierzulande legalisiert werden, würde dies auch eine strengere Bewertung erforderlich machen.
Bilanz des Tages
Im Schlussplenum wurden die Ergebnisse aus den Workshops zusammengetragen und eine Bilanz des Tages gezogen. Dr. Eumann war sich mit der FSF-Geschäftsführerin Claudia Mikat und dem FSM-Geschäftsführer Martin Drechsler einig, dass das Format der gemeinsamen Fortbildungsveranstaltung fruchtbar ist und in regelmäßigem Abstand fortgesetzt werden soll. Die Aufgabe, Schutz für die besonders Schutzbedürftigen zu organisieren, dürfte angesichts einer immer komplexeren und – via Smartphone – immer weiter in die Lebenswirklichkeit eindringenden Medienrealität in absehbarer Zeit nicht an Relevanz verlieren.