Jenseits der guten Kinderstube

Daily Talks in TV DISKURS

Christian Richter

Dr. Christian Richter ist Medienwissenschaftler und Referent für Medienbildung am Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg. Sein Forschungsschwerpunkt ist u.a. die Programmgeschichte des Fernsehens.

Talkshows nahmen in ihrer Ausprägung als tägliche Nachmittagssendung extreme Züge an, die oft mit dem Schlagwort „Schmuddeltalk“ beschrieben wurden. Dank gezielter Grenzüberschreitungen, verbaler Freizügigkeit und vulgärer Ausdrucksformen stand kaum ein anderes Format derart in der öffentlichen Kritik wie die Shows von Hans Meiser, Bärbel Schäfer, Arabella Kiesbauer, Sonja Zietlow und Co. Und kaum ein anderes Format beschäftigte den Jugendmedienschutz derart intensiv. Ein Rückblick auf das Nachmittagsprogramm der 1990er-Jahre und seine Berücksichtigung in den ersten Ausgaben von tv diskurs.

Online seit 11.05.2022: https://mediendiskurs.online/beitrag/jenseits-der-guten-kinderstube-beitrag-772/

 

 

Talk-Pioniere

„Ja, nun sind wir also zum ersten Mal da.“ Mit diesen wenig glanzvollen Worten begrüßte der ehemalige Nachrichtensprecher Hans Meiser am 14. September 1992 nicht nur das Premierenpublikum seiner neuen Sendung. Er führte mit diesem Satz auch das Genre der sogenannten Daily Talks in Deutschland ein, das in den kommenden Jahren das werktägliche Tagesprogramm dominieren und die Verantwortlichen in der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) schwer beschäftigen sollte.

In seiner schlicht nach ihm benannten Show (RTL 1992 – 2001) griff Meiser in monothematischen Ausgaben vorrangig alltägliche Themen auf. Anstatt diese jedoch von ausgewiesenen Experten und Expertinnen erörtern zu lassen, versammelte die Redaktion jeweils sieben bis zehn (mehr oder weniger) Betroffene, die sich mit verschiedenen Blickwinkeln zum Thema und ihren jeweiligen Standpunkten verhielten.
 


Dieses simple Konzept hatte man aus den USA übernommen, wo es dank fester Zeiten schnell Akzeptanz fand und sich aufgrund der geringen Produktionskosten für die Kanäle zu einem lukrativen Baustein entwickelt hatte. In den Anfängen des Genres in den 1960er-Jahren wurde zunächst „unverbindlich geplaudert“ und „freundliche Moderatoren trafen auf prominente Gäste; man unterhielt sich über neue Filme, Bücher, Mode, scherzte, tauschte Komplimente.“ (Keller 2009, S. 50)

Um sich davon bewusst abzusetzen, rief der Journalist Phil Donahue in seinem Programm (Syndication, 1967 – 1996) beständig kontroverse und politische Themen auf und sprach offen über Fragen der Sexualität. Außerdem ließ er das anwesende und heimische Publikum mitreden. Hitzige Diskussionen waren von der Redaktion nicht selten absichtlich initiiert, indem sie Gäste mit unterschiedlichen Standpunkten gezielt gegeneinander in Stellung brachte.

Ab 1986 sprach die amerikanische Gastgeberin Oprah Winfrey in ihrer nachmittäglichen Sendung (The Oprah Winfrey Show, Syndication, 1986 – 2011) ebenfalls über gesellschaftliche Tabuthemen, tat dies allerdings in einer gefühlsbetonten, nicht mehr journalistisch neutralen Weise. Ihre emotionale Herangehensweise traf (vor allem bei Frauen) auf derartige Zustimmung, dass sie bis zum (selbst gewählten) Ende ihrer Show fast ungebrochen die höchsten Reichweiten am Nachmittag erzielte.

In seiner deutschen Version orientierte sich Hans Meiser ausdrücklich an den Vorbildern von Winfrey und Donahue und erzielte anfangs am Nachmittag um 16.00 Uhr außergewöhnlich hohe Sehbeteiligungen. Der immense Erfolg brachte mit Ilona Christen (RTL, 1993 – 1999) und Fliege (Das Erste, 1994 – 2005) schnell die ersten Nachahmer hervor, die sich an denselben Vorlagen bedienten und damit vor allem ein erwachsenes oder gar älteres Publikum adressierten.
 

A Husband and Wife Who Kept the Same Shocking Secret from One Another (OWN 2014)



Ab 1993 brachte der tägliche Talk von Ricki Lake Bewegung in den amerikanischen Markt, indem sich dieser durch seine Inszenierung und seine besonders junge Moderatorin ausdrücklich an Personen zwischen 18 und 34 Jahren richtete. Bei der Themenwahl fokussierte er stark auf die Lebenswelten junger Leute und griff hauptsächlich Beziehungsprobleme auf. Die konsequent junge Ausrichtung brachte die etablierten Vorgänger in Bedrängnis und zeigte sich überdies für die Werbeindustrie als höchst attraktiv, die auf diese Weise junge eskapistische, konsumfreudige Menschen erreichte. In Arabella (ProSieben, 1994 – 2004) und Bärbel Schäfer (RTL, 1995 – 2002) fanden sich schnell die ersten deutschen Pendants, die das Genre ähnlich wie Ricki Lake ins Interesse einer jungen Zielgruppe zogen.
 

Let’s talk about sex … oder doch nicht?

Der hohe Zuspruch aller täglichen Talkshows wurde oft darin begründet, dass sie häufig Diskussionen über (vermeintliche) Tabus und zunehmend Themen aus den Bereichen Sexualität und Intimität aufnahmen und die niedrigsten Instinkte ihrer Zuschauenden stimulierten. Themen wie „Schwanger und Sex, das geht doch nicht“ (Vera am Mittag am 25.07.1997), „Wie viel Zeit braucht man zum Sex?“ (Bärbel Schäfer am 09.01.1997), „Im Bett bin ich ein Profi“ (Kerner am 29.08.1997) oder „Sex ist die beste Medizin“ (Arabella am 26.09.1997) gehörten bald zum festen Repertoire aller Formate. In der Folge waren die Redaktionen dem wiederkehrenden Vorwurf ausgesetzt, am frühen Nachmittag zu freizügig und explizit über sexuelle Neigungen und Handlungen zu sprechen. Auf diese Weise – so ein gängiges Argument – bekämen Kinder „gelehrt, daß ausschweifendes Ausleben der Sexualität normal sei“. Dadurch würden aus den „Kindern und Jugendlichen Hedonisten, die sich nur für den unbeschränkten und egoistischen Genuß interessieren. Richtige Sex-Maschinen, Sklaven ihrer Triebe“ (Gersdorff 1998, S. 258, 256). Diese Entwicklung und die davon ausgelösten Debatten brachte dem Genre bald ein negatives Image ein, das allgemein unter dem Schlagwort „Schmuddeltalks“ (Tenscher/Schicha 2002, S. 9) bekannt wurde.

Eine umfangreiche Studie von Lothar Mikos im Auftrag der FSF, deren Ergebnisse in tv diskurs 1 veröffentlicht wurden, relativiert diese Annahme jedoch. Unter den insgesamt 621 zwischen Februar und September 1996 untersuchten Sendungen behandelten demzufolge lediglich 45 Ausgaben das Thema „Sex“, was einem Anteil von 8,3 % entsprach. Stattdessen hätte der Schwerpunkt auf zwischenmenschlichen Beziehungen (19,7 %) und Fragen aus dem Bereich Familie (13,0 %) gelegen (Mikos 1997, S. 14 ff.). Zugleich wies Mikos darauf hin, dass die Reihen trotz ihrer nachmittäglichen Platzierung kaum von Kindern angesehen würden, weil sie darin zu wenig Identifikationsfiguren und Anknüpfungspunkte fänden. Entsprechend schlussfolgerte er:

Da Kinder Filme und Sendungen auf ihre eigenen Lebenserfahrungen beziehen, scheint eine Beeinträchtigung eher unwahrscheinlich, denn nur selten werden Themen behandelt, die in einem Zusammenhang zu kindlichen Erfahrungen stehen.“ (ebd., S. 19)

Eine ähnliche Auswertung von 500 Ausstrahlungen zwischen August und November 1997 durch Annette Laubsch ergab ein ähnliches Bild. Bei ihrer Analyse, deren Ergebnisse in tv diskurs 5 abgedruckt waren, zeigte sich sogar, dass reine Sexthemen in den Talkshows mit einem Anteil von 5,6 % eine noch geringere Rolle einnahmen. Im Untersuchungszeitraum wäre zudem keine Ausgabe zu finden gewesen, in der „abnorme Sexpraktiken“ thematisiert wurden (Laubsch 1997, S. 40 ff.). Für die offenbar verzerrte Wahrnehmung der Sendungen erkennt Laubsch eine Ursache in den gewählten Titeln der Folgen. Sie hätten zum Zwecke der Aufmerksamkeitsgewinnung oft anrüchiger und provokanter angeklungen, als sich die dahinter verborgenen Diskussionen erwiesen.
 

Der Ton wird rau

Tatsächlich schienen sich die offenherzigen Gespräche über Sex schnell zu verbrauchen, denn bald wandelten sich die Shows und gerieten in ihrer Grundatmosphäre aggressiver. Eine wesentliche Ursache hierfür war die Einführung von Jerry Springer (Syndication, 1991 – 2018) in den USA, die nach einigen Startschwierigkeiten und konzeptionellen Veränderungen verstärkt auf affektgeladene Emotionen, Wutausbrüche und überzeichnete Krawalle setzte. Die Produktion verdiente kaum mehr den Zusatz „Talk“, da der Fokus nicht mehr auf Gesprächen lag. Stattdessen bestimmten hasserfüllte Vorwürfe, persönliche Beleidigungen und „handfeste Attacken und Schlägereien zwischen den Gästen“ das Geschehen (Semeria 2002, S. 169).
 

Sisters Duke It Out (The Jerry Springer Show 2021)



Ein Trend, der recht bald auch im deutschen Fernsehen zu beobachten war, denn die heimischen Redaktionen setzten vermehrt auf lautstarke Streitigkeiten und Konfliktdramaturgien, um angesichts der wachsenden Konkurrenz auf diese Weise die (An‑)Reize zum Einschalten zu erhöhen. In Shows wie Bärbel Schäfer, Vera am Mittag (Sat.1, 1996 – 2005) oder Arabella, die der Autor Matthias Fley als „Trivial-Streit-Talks“ charakterisierte, ging es im Kern um „die Vorführung skurriler und extremer ‚Typen‘, die Auseinandersetzung der Gäste untereinander und mit dem Publikum. Unter dem Gelächter und Gejohle des Publikums wurden die Gäste verbal angegriffen, beleidigt und provoziert“ (Fley 1997, S. 113). Dass etwa bei Arabella die Gäste im Unterschied zu den übrigen Formaten auf der Bühne nicht in bequemen Stühlen Platz nahmen, sondern an zwei Tresen standen, trug zur benötigten Anspannung für die kalkulierte Eskalation bei.

Wie Barbara Sichtermann intv diskurs 10 herleitete, wäre es jener gewisse „Prolo-Touch“ gewesen, der die Zuschauenden zum Einschalten bewegte und weniger die schlüpfrigen Themen. Der Reiz der Sendungen läge demnach vor allem darin, dass dort Menschen zu Wort kamen, die „hörbar und ersichtlich keine Kinderstube haben. Die nicht gelernt haben, Person und Sache zu trennen. Die eine Vulgärsprache pflegen, dass es einem die Schuhe auszieht. Die sich, wenn man sie in die Enge treibt, verbal, mimisch und gestisch wie die Kesselflicker kloppen“ (Sichtermann 1999, S. 76).
 

Grenzziehungen und -verschiebungen

Infolge der Verrohung der Umgangsformen gingen bei den Landesmedienanstalten und bei der FSF vermehrt Beschwerden und Forderungen nach Verschärfungen der Jugendschutzgesetze ein. Im Gespräch mit tv diskurs 1 lehnte Dr. Reiner Hochstein, der damalige Direktor der Landeszentrale für private Rundfunkveranstalter Rheinland-Pfalz (LPR), eine solche Forderung allerdings ab, schließlich könnten die besten Gesetze nicht verhindern, dass „immer wieder bis haarscharf an die von ihnen gezogene Grenze Programme veranstaltet werden.“ Zugleich erkannte er an, dass zwar eine einzelne Episode in der Regel nicht jugendgefährdend sei, aber in der Summe aller Sendungen den „Kindern und Heranwachsenden ein einseitig geprägtes Weltbild vermittelt [wird], das mit der Wirklichkeit, mit dem Verhalten breiter Mehrheiten in unserer Gesellschaft und mit ihren Wertvorstellungen kaum mehr übereinstimmt.“ Daraus leitete er aber keinen Auftrag für die Programmaufsicht ab, sondern die Notwendigkeit eines „breiten gesellschaftspolitischen Diskurses“, der das Bewusstsein für solche Grenzziehungen und ‑verschiebungen prägen müsse (Hochstein 1997, S. 21).

Der Medienberater und ‑forscher Gerhard Graf widersprach in tv diskurs 6 dieser These, nach der Talkshows durch ihre permanenten Regelverletzungen die bestehenden Normen aufweichen und letztlich auflösen würden. Da in ihnen das Abnormale als exotisch zelebriert und als solches vorgeführt bzw. verurteilt würde – so seine Gegenthese – würden die bestehenden Ordnungen vielmehr reproduziert und verfestigt werden (Graf 1998, S. 76 f.).

Selbst solche differenzierten Diskussionsbeiträge vermochten nicht zu verhindern, dass durch den wachsenden Konkurrenzkampf der steigenden Zahl der Mitbewerber der Ton rauer wurde und die Verlockung wuchs, die Grenze des Zulässigen stetig zu verschieben. Dies führte letztlich dazu, dass die rheinland-pfälzische Landesmedienanstalt gegen den Kanal Sat.1 ein Bußgeld in Höhe von 100.000 DM wegen einer Ausgabe von Sonja (Sat.1, 1997 – 2001) mit dem Titel „Hilfe, mein Kind schlägt mich“ verhängte, weil dort ein elfjähriges Mädchen von der eigenen Mutter sowie vom anwesenden Publikum attackiert und in die Enge getrieben wurde (vgl. Reufsteck/Niggemeier 2005, S. 1120).

„Einige Sendungen sind über das hinausgegangen, was für den Nachmittag unter Jugendschutzgesichtspunkten zulässig erscheint“, räumt Joachim von Gottberg, der damalige Geschäftsführer der FSF in tv diskurs 5 ein. Zugleich relativierte er diese Vorkommnisse als Ausnahmefälle. Schließlich wären von den „bisher etwa 6.000 ausgestrahlten Talkshows“ lediglich zwei Folgen beanstandet worden, für acht weitere würde eine ausführliche Prüfung noch ausstehen. Dies sei „nicht sehr viel“ (Gottberg 1998).
 

Neue Spielregeln für alle?

Obwohl nur wenige offizielle Beanstandungen und Rügen erfolgten, wuchs der Gegenwind für das Genre derart an, dass im Jahr 1998 Handlungsbedarf bestand, um das Image der Sendung und ihrer Kanäle zu retten. Daher einigte sich die Branche mit der FSF auf ein gemeinsames Regelwerk, den sogenannten „Code of Conduct“. Mit diesem freiwilligen Regelwerk verpflichteten sich die Produktionsfirmen selbst u. a. darauf, Gegengewichte für allzu extreme Anschauungen zu schaffen, Diskriminierungen und vulgäre Redeweisen zu unterbinden, Eskalationen zu verhindern sowie Konflikte nie ohne Hinweise auf Lösungsstrategien austragen zu lassen. Der vollständige Wortlaut der Vereinbarung konnte in tv diskurs 6 eingesehen werden (VPRT 1998).

Bei einer ersten Überprüfung der Beachtung der Verhaltensgrundsätze kam Joachim von Gottberg in tv diskurs 7 zum Schluss, dass diese grundsätzlich wirkten. Der Anteil an Sexthemen sei auf 2 % gesunken und die Moderatoren und Moderatorinnen hätten die vereinbarten Regeln verinnerlicht, die nun verstärkt auf eine angemessene Sprache achteten. Auch „die Ausgewogenheit der Gäste hat sich verbessert, ebenso die klare ethische Positionierung der Moderation“ (Gottberg 1999a, S. 60 f.) Dennoch musste von Gottberg feststellen, dass es bei einzelnen Ausgaben von Birte Karalus (RTL, 1998 – 2000), Arabella und Sonja weiterhin Verstöße zu beklagen gab – u. a. durch alkoholisierte Gäste, durch das Herbeiführen einer emotionalen Extremsituation für ein Kind sowie durch mehrere außer Kontrolle geratene Konfrontationen von (ehemaligen) Beziehungspartnern (ebd.).

Dies blieben keine Einzelfälle, denn wie sich zeigen sollte, lösten die Verhaltensgrundsätze bloß eine kurzfristige Entspannung aus. Nur wenige Monate später resümierte Joachim von Gottberg in tv diskurs 9, dass die Anzahl der möglichen Verstöße deutlich angestiegen sei – allein im Monat März des Jahres 1999 hätte man 23 Vorfälle identifiziert. „Die Umsetzung der Verhaltensgrundsätze hatte offenbar darunter gelitten, daß aufgrund des Konkurrenzverhältnisses jeder die Kriterien nur so lange einhielt, wie dies in der jeweiligen Konkurrenzsendung auch geschah. Scherte eine Talkshow aus und erreichte damit eine positive Quote, zogen die anderen nach“ (Gottberg 1999b, S. 64). Insbesondere waren verstärkt Personen bewusst unter einem falschen Vorwand eingeladen und in Konfliktsituation gebracht worden, in der Hoffnung, der Streit würde sich vor den Kameras umso heftiger entladen.

Der spürbare Anstieg der Intensität heizte die nie verstummte öffentliche Debatte um die nachmittäglichen Formate weiter an und veranlasste Klaus Kopka, den Vorsitzenden des Medienrats der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien (BLM) zur oft zitierten Aussage:

Was bei Hans Meiser läuft, ist unter aller Sau.“ (zitiert nach Mauruschat 1999)

Obgleich Hans Meiser zuerst verärgert auf diese Aussage reagierte, gestand er wenig später, es zu bedauern, „dass auch ich mich von diesem Trend ‚immer schneller, immer krasser, immer schräger‘ hab mitziehen lassen“ (zitiert nach Keller 2009, S. 335 f.).
 

Der Anfang vom Ende

Dass die Abwärtsspirale der Grenzüberschreitungen nicht unendlich fortgeschrieben wurde, lag am Ende wohl weniger an der Wirksamkeit des „Code of Conducts“, als schlicht an der Übersättigung des Markts. Immerhin konkurrierten kurz vor der Jahrtausendwende zwischen 10.00 und 17.00 Uhr insgesamt 13 Shows um die Gunst des Publikums, was zu einem allgemeinen Absinken des Interesses führte. Die Redaktionen reagierten darauf, indem sie verstärkt persönliche Beziehungen zwischen Intimpartnern thematisierten, die häufig mit der Auflösung eines im Vorfeld durchgeführten Lügendetektor- oder Vaterschaftstests (scheinbare) Lösungen fanden. Eine dauerhafte Rettung vermochte dieser Ansatz nicht zu leisten und so verschwanden die Produktionen sukzessive vom Schirm, sodass im Sommer 2009 einzig die erst nach dem Ende des Booms gestartete Sendung Britt – Der Talk um eins (Sat.1, 2001 – 2013) als letzte Vertreterin dieses Genres übrig blieb.

In ihrem Beitrag in tv diskurs 10 bemerkte Barbara Sichtermann, dass Aufbau und Ablauf von Talkshows einer Gerichtsverhandlung nicht unähnlich sei: „Ein Gespräch, selbst ein Streit, hat eigentlich nicht stattgefunden. In z. T. vorbereiteten Plädoyers haben die Beteiligten ihre Sicht der Dinge geschildert, Zeugen und Experten wurden einvernommen und am Schluss sprachen die Geschworenen – das Publikum – ihr Urteil.“ (Sichtermann 1999, S. 79) Insofern erschien es konsequent, dass die freigewordenen Slots der eingestellten Talkshows meist Gerichtsshows wie Richterin Barbara Salesch (Sat.1, 1999 – 2012) übernahmen, bei denen Laien und echten Juristen erfundene Gerichtsfälle aufführten. Dort schloss jede Ausgabe im Gegensatz zu den meist offenen Diskussionen in den Daily Talks mit einem Urteilsspruch und dadurch mit einer abschließenden Bewertung des Problems. Die Instanzen des Jugendmedienschutzes haben sie ebenso beschäftigt … doch das ist eine andere Geschichte.
 

Literatur

Fley, M.: Talkshows im deutschen Fernsehen: Konzeptionen und Funktionen einer Sendeform. Bochum 1997

Gersdorff, M. v.: Talkshows – Die Furche des Schmutzes für die Heime. Frankfurt/a. M. 1998

Gottberg, J. v.: Talkshows differenziert betrachten. In: tv diskurs, Ausgabe 5, 2/1998, S. 1. Abrufbar unter: mediendiskurs.online

Gottberg, J. v. (a): Daily-Talks. FSF überprüft Einhaltung der freiwilligen Verhaltensgrundsätze. In: tv diskurs, Ausgabe 7, 1/1999, S. 58 – 61. Abrufbar unter: mediendiskurs.online

Gottberg, J. v. (b): Heftiger Streit und Überraschungsgäste. Nach einer Häufung von Problemfällen geht es in Talkshows wieder ruhiger zu. In: tv diskurs, Ausgabe 9, 3/1999, S. 63 – 65. Abrufbar unter: mediendiskurs.online

Graf, G.: Daytime Talkshows. Desorientierung oder gesellschaftliche Integration. In: tv diskurs, Ausgabe 6, 3/1998, S. 72 – 77. Abrufbar unter: mediendiskurs.online

Hochstein, R.: Zur Grenzziehung brauchen wir den gesellschaftlichen Diskurs. In: tv diskurs, Ausgabe 1, 1/1997, S. 20 – 25. Abrufbar unter: mediendiskurs.online

Keller, H.: Die Geschichte der Talkshow in Deutschland. Frankfurt am Main 2009

Laubsch, A.: Nur Sex + Crime in Daily Talks? Die öffentliche Wahrnehmung steht im Widerspruch zur tatsächlichen Themenstruktur. In: tv diskurs, Ausgabe 5, 2/1998, S. 40 – 43. Abrufbar unter: mediendiskurs.online

Mauruschat, A.: Überraschung: Es wird weitergeschmuddelt. In: taz. Die tageszeitung, 30.04.1999. Abrufbar unter: https://taz.de/!1290900/

Mikos, L.: Talkshows. Gepflegte Langeweile mit exotischen Einlagen. In: tv diskurs, Ausgabe 1, 1/1997 S. 14 – 19. Abrufbar unter: mediendiskurs.online

Reufsteck, M./Niggemeier, S.: Das Fernsehlexikon. München 2005

Semeria, S.: Die Daytime Talkshow. Zur Erfindung eines Genres in den USA und dessen Adaption in Deutschland. In: J. Tenscher/C. Schicha (Hrsg.): Talk auf allen Kanälen: Angebote, Akteure und Nutzer von Fernsehgesprächssendungen. Wiesbaden 2002

Sichtermann, B.: Der Prolo-Touch Warum sind die Nachmittags-Talkshows so anstößig? In: tv diskurs, Ausgabe 10, 4/1999, S. 74 – 79. Abrufbar unter: mediendiskurs.online

Tenscher, J./Schicha, C.: Eine Einführung. In: J. Tenscher/C. Schicha (Hrsg.): Talk auf allen Kanälen: Angebote, Akteure und Nutzer von Fernsehgesprächssendungen. Wiesbaden 2002, S. 161 – 180

VPRT: Freiwillige Verhaltensgrundsätze der im VPRT zusammengeschlossenen privaten Fernsehveranstalter zu Talkshows im Tagesprogramm vom 30. Juni 1998 (Code of Conduct); abgedruckt in: tv diskurs, Ausgabe 6, 2/1998, S. 90 – 91. Abrufbar unter: mediendiskurs.online