Kolumne: Desaster und Chance

Wenn Medien die Corona-Krise kriegen

Michael Ebmeyer

Michael Ebmeyer ist Schriftsteller und Übersetzer. Er lebt und arbeitet in Berlin.

Kommentar zu medialen Peinlichkeiten, Marktwertverlusten und auch Idealismus angesichts der Corona-Berichterstattung.

Printausgabe tv diskurs: 24. Jg., 3/2020 (Ausgabe 93), S. 54-55

Vollständiger Beitrag als:

Zu Beginn der Pandemie dachte ich: Wenigstens den Medien wird sie nicht schaden. Nun, da die Leute wohl oder übel zu Hause hocken und unweigerlich ein großer Bedarf an Information, an Erklärungen und Einordnungen besteht, erhebt sich der Journalismus strahlend aus seiner Misere. Die Onlinenachrichtenportale, fantasierte ich, werden sich vor Kundschaft kaum retten können, und viele derer, die plötzlich Zeit haben, um jeden Tag in Ruhe zu frühstücken, werden sich auch auf die Freude an der gedruckten Tageszeitung zurückbesinnen.

Ein paar Monate später: Ernüchterung. Die Einzigen, die rasant Publikum hinzugewonnen zu haben scheinen, sind die Verschwörungsnarzissten. Fun Fact: Das Wort „Covidioten“ ist inzwischen in fast allen Sprachen der Welt geläufig. Und während wir uns locker machen, weil die Wirtschaft nicht zu lange lahmliegen darf und sich das „Infektionsgeschehen“ nun gefälligst dem Fetisch des uneingeschränkten Konsums unterzuordnen hat, verbrennen ein paar Möchtegerngurus, deren Namen hier nicht schon wieder genannt werden sollen, manisch ihren Marktwert, gleiten öffentlich in die Psychose ab oder kosten ihre Viertelstunde Ruhm aus. Ihnen läuft nach, wer auch schon immer gerne einen an der Waffel haben wollte oder nach einer zeitgemäßen Einkleidung für seinen Antisemitismus sucht.

Und apropos Marktwert verbrennen: Auch wenn wir Corona eines Tages überstanden haben, sollten wir nicht vergessen, wie das Flaggschiff der Rügenpresse – im laufenden Jahr (Stand: Mitte Juni 2020) hat es sich schon wieder fünf der zehn vom Deutschen Presserat ausgesprochenen „Maximalsanktionen“ ergeifert –, also die „Bild“-Zeitung, sich in der Krise blamiert hat.

Der Plan, Deutschlands Lieblingsvirologen Christian Drosten zu zerlegen, flog der Rüpeltruppe aus der Axel-Springer-Straße lehrbuchhaft um die Ohren. Chefredakteur Julian Reichelt geht nun nicht nur in die Annalen ein als der Breitbeinigste unter denen, die die „Bild“-Auflage immer tiefer in den Keller fuhren, sondern obendrein als derjenige, der die Zeitung ausgerechnet in ihrer Paradedisziplin, der Niedertracht, zum Gespött gemacht hat.

So umfassend zum Gespött, dass Springer-Boss Mathias Döpfner seinem Schützling Reichelt in einem weinerlichen Podcast zur Seite sprang. Verkehrte Welt de luxe: In dem denkwürdigen Tondokument treten „Bild“-Redakteure als bedrängte und verfemte Unschuldslämmer auf, denen es doch nur darum gehe, als Kämpfer für die Wahrheit „in den Geschichtsbüchern“ (Julian Reichelt) zu stehen. Wer sich an dieser Stelle (ca. bei Minute 2:40) nicht totgelacht hat, kann Mathias und Julian noch 50 weitere Minuten beim Selbstmitleid lauschen.

Eine ausgiebige Analyse dieses Quarks bietet Stefan Niggemeier auf „Übermedien“ unter dem Titel Auch Julian Reichelt ist ein „Bild“-Opfer – ähnlich wie zuvor schon „Der Volksverpetzer“, der unter Keiner nimmt sie mehr ernst: Bild-Hetze gegen Drosten geht nach hinten los den Schuss in den Ofen säuberlich dokumentiert hat. Und so könnten wir schließen, dass in der Viruskrise ausgerechnet der alte Platzhirsch der Meinungsmache zum Symbol für die Selbstdemontage herkömmlicher Medien geworden ist, während der Journalismus gerade jetzt, da wir ihn so dringend brauchen, von Portalen gerettet wird, die dafür gegründet wurden, ihn zu kritisieren oder sich speziell dem Internet zu widmen. Wie eben „Volksverpetzer“, „Übermedien“, natürlich die Pioniere von „Bildblog“, aber auch „Correctiv“, „netzpolitik.org“ oder „Mimikama“.

Zum Glück muss es bei einem für den klassischen Journalismus so betrüblichen Resümee aber nicht bleiben. Hier ein Gegenbeispiel: die Schweizer Onlinepublikation „Republik“. Gestartet Anfang 2018 als genossenschaftlich organisiertes, per Crowdfunding ermöglichtes Magazin, das keine Werbung enthält und seinen Statuten gemäß von den eigenen „Mitgliedern und Abonnentinnen“ verlegt wird:

Unser Ziel: Journalismus, der die Köpfe klarer, das Handeln mutiger, die Entscheidungen klüger macht. Und der das Gemeinsame stärkt: die Freiheit, den Rechtsstaat, die Demokratie.“

Ein idealistisches Projekt also, und der Transparenz halber sei erwähnt, dass auch ich, als Autor und Co-Autor, schon zwei Texte in der „Republik“ veröffentlicht habe, beide 2019.

In der Zeit der Onlinegratiskultur und des wohlfeilen Branchenzynismus wurde das Unterfangen zwangsläufig belächelt: Wie süß, ach, lasst mal, die halten nicht lange durch. Nun ja, die in der eigenen Rechtsdrift verhedderte „Neue Zürcher Zeitung“ zeterte schon vorab, die „Republik“ werde ein Sammelbecken für linke Sektiererinnen sein und plane damit den „ideologischen Selbstmord“.

Zwei Jahre hielt sie durch, aber Anfang 2020 stand die „Republik“ vor dem Aus. Die Abo-Zahl war nach dem vielversprechenden Beginn abgerutscht, das Projekt trug sich nicht. Die Redaktion kündigte an, zum 31. März dichtzumachen, wenn sich bis dahin nicht wundersamerweise mehrere Tausend neue „Mitgliedschaften“ fänden.

Dann kam Corona. Und das Wunder geschah. Parallel zur Verhängung der Ausgangsbeschränkungen, die in der Schweiz mit ihrer Vorliebe für schmissig-schiefe Anglizismen „Lockdown light“ genannt wurden, stieg die Zahl der Mitglieder unaufhaltsam an. 19.000 hatte man sich erhofft, Ende März waren es 23.000 – und am 19. Juni 2020 wurde sogar die Schwelle von 25.000 Abonnements überschritten, mit der das Magazin nach eigenen Angaben dauerhaft „selbsttragend funktionieren kann“.

Im Zeichen von Sars-CoV-2 lief die „Republik“ zu Hochform auf. Ihre Berichterstattung nahm nicht nur die Coronaverheerungen daheim und im Ausland genau in den Blick. Sie legte dabei auch immer wieder offen, wie das Virus gleichermaßen bei Politikern und Reportern die eingefleischte Bescheidwisser-Attitüde aushebelt.

Eine Autorin, Anina Ritscher, begleitete in einer wochenlangen Recherche die Demos der Verschwörungsgläubigen in Bern (und kam damit deren Motiven und Gemütszuständen viel näher als der Wust der angenervt heruntergerissenen Kommentare in anderen Medien); ein Team ging in einer vierteiligen Serie der Frage nach, wie die allseits prophezeiten ökonomischen Folgen der Pandemie ganz konkret aussehen (und wie unwahrscheinlich eine Korrektur des gewohnten Wirtschaftens nach der Pandemie tatsächlich ist). Und so weiter …

An die 300 Artikel zum Thema „Corona“ hat die „Republik“ mittlerweile veröffentlicht. Das Engagement hat sich ausgezahlt: Endlich ist die Krise einmal wirklich zur Chance geworden.

Nun wollen wir natürlich gerne Äpfel mit Birnen vergleichen, aber nicht die „Republik“ mit der „Bild“, die selbst nach zwei Jahren Reichelt 18-mal so viele zahlende Digitalabonnenten hat. Doch ob auf dem dämmrigen Boulevard oder im aufblühenden Segment der seriösen, unabhängigen Onlinepublikationen: Die journalistischen Maßnahmen, die gegen den neuen Erreger ergriffen wurden, zeigen Wirkung – und weisen hoffentlich Wege für die Zukunft.