Kolumne: Diese elf Gedanken zum Thema „Aufmerksamkeit“ werden Ihr Leben verändern

Michael Ebmeyer

Michael Ebmeyer ist Schriftsteller und Übersetzer. Er lebt und arbeitet in Berlin.

Michael Ebmeyer zeigt Wege auf, wie wir möglicherweise aus der Aufmerksamkeitskrise herauskommen.

Printausgabe tv diskurs: 22. Jg., 2/2018 (Ausgabe 84), S. 66-67

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Vielleicht haben wir Pech, und in ein paar Jahren wird der Appell: „Das müssen Sie lesen!“ an Journalistenschulen als feststehende Oberzeile für Content aller Art gelehrt. In einer überschaubaren Anzahl von Variationen, damit zwar immer der gleiche, aber nicht jedes Mal derselbe Aufruf die Texte anpreist. Ein Flehen, ein Beschwören, eine Drohung: Wenn du dies nicht liest, bist du verloren. Und ich auch. Und sowieso wir alle – der ganze prekäre Freie-Mitarbeiter-Pool, der dir all die Demonstrativpronomina und Wow-Effekte in die Augen bläst.

Vielleicht haben wir auch Glück, und das penetrant-verzweifelte Geheische wird schon bald ebenso als Macke einer überstandenen Zeit oder Phase anhaften wie, sagen wir, die Schulterpolster den 1980er-Jahren. „Das war der Jargon der Aufmerksamkeitskrise“, werden wir dann sagen und froh sein, dass wir sie hinter uns haben. Scherzhaft werden wir noch ab und zu die typische Pose der Aufmerksamkeitskrise imitieren: Menschen, die auf Smartphones starren.

Aber von welcher Warte aus werden wir dann scherzen? Wie es aussieht, treten wir ja nicht, wie noch vor 20 Jahren geglaubt, allmählich in den Cyberspace ein, sondern er in uns. Werden wir also unseren heutigen, über ein handliches Gerät gebeugten Zustand der kriselnden Aufmerksamkeit nicht etwa deshalb gelinde lächerlich finden, weil die Krise überwunden, sondern weil das Gerät uns inzwischen implantiert ist? Und was wird eigentlich aus dem prekären Autorenpool? Ab wann übernehmen Maschinen die Verfertigung der Texthäppchen nach dem Strickmuster „23 neue geniale Lifehacks, die du kennen musst“?

Lenken wir uns nicht länger mit Zukunftsspekulationen ab, kehren wir in die Gegenwart zurück – „aufgemerkt nun also!“, wie schon Heinrich Manns Professor Unrat zu sagen pflegte.

Dein Weg aus der Aufmerksamkeitskrise

Ach, ach, alles so fragmentiert. Das Informationszeitalter ist zur Häppchen-Ära geworden, lauter buhlende Bissen, und die Grenzen zwischen Inhalt und Werbung verschwimmen auch deshalb, weil jeder Inhalt wie Werbung daherkommt. Klick mich, ich bin dein nächster Kick.

Und ach, alles so nivelliert und doch wieder hierarchisiert. Das große Demokratieversprechen, das mit dem Web 2.0 einherging, droht sich in einem stumpfsinnigen Digitaldarwinismus aufzulösen. Die Häppchen werden aggressiv – Recht bekommt, wer am lautesten plärrt. Stellen wir uns also ins nächstbeste Forum und brüllen: Die Aufmerksamkeitskrise ist eine Krise der Selbstentwertung von Information!

Der Ausweg? Nun, kaufen Sie sich halt eine Zeitung. Hören Sie komplette Radio-Features. Schauen Sie sich Fernsehsendungen an, die nicht aus Häppchen bestehen. Genießen Sie gründliche Recherche, solange es noch geht. Lassen Sie sich nicht ablenken, und haben Sie kein schlechtes Gewissen dabei. Was Sie da tun, ist nicht altmodisch oder elitär, sondern Sie tragen zur Bewahrung eines gefährdeten weltweiten Kulturgutes bei – des Kulturgutes Aufmerksamkeit.

Einerseits will uns das ständige Geheische schmeicheln: Das musst du lesen und diese Lifehacks musst du kennen, weil du so wichtig bist. Oder weil es sonst vielleicht niemand liest. Ohne dich ist jedenfalls alles sinnlos. Mit dir vielleicht auch, aber darüber reden wir jetzt nicht. Andererseits sollen wir abgespeist werden. Die Häppchen stapeln sich über jeder ausführlicheren Darstellung, sie wollen, dass wir uns durchfressen, und wenn wir uns durchgefressen haben, sind wir satt.

Unsere Aufmerksamkeit ist das zweite kostbare Gut, mit dem wir durch die immer digitalere Welt laufen. Das erste Gut sind unsere Daten. Darüber ist ja schon viel geschrieben worden: Wie wir gegen fadenscheinige Belohnungen wie „Vernetzung“, „Homeshopping“ oder „Bonuspunkte“ freizügig mit persönlichen Angaben um uns werfen. Ich glaube, wir sollten anfangen, unsere Aufmerksamkeit ähnlich zu betrachten.

Einer der ersten Schritte in diese Richtung darf ruhig sein, die Häppchen erbärmlich zu finden. Damit treten wir niemandem zu nahe, denn keine Autorin und kein Autor reißt sich darum, immerzu hohldrehendes Heischen zu produzieren. Mir geht das unablässige „Diese sieben Tricks“ und „Was dann geschah, ist unglaublich“ längst so auf die Nerven, dass ich nichts mehr davon lese.

Und ich bin halbwegs zuversichtlich, dass die Immunisierung gegen das Clickbaiting noch gerade rechtzeitig weit genug um sich greift, um ein Abkippen der Aufmerksamkeitskrise in eine Aufmerksamkeitskatastrophe zu verhindern. Auch wenn es um Onlinewerbeeinnahmen geht, kann die Holzhammermethode nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Und auch wenn die digitale Sphäre unentwegt immer tiefer in uns eindringen will, bleibt uns – solange die Aufmerksamkeitskatastrophe nicht eintritt – die Möglichkeit, uns für andere Inhalte zu entscheiden als die Häppchen. Betrachten wir unsere Aufmerksamkeit als ein kostbares Gut (meinetwegen auch als eine Art Währung), so liegt ja der Gedanke nahe, dass wir sie halbwegs beisammen halten und vor allem selbst darüber befinden sollten, worauf wir sie verwenden.

Ein weiteres Symptom der Aufmerksamkeitskrise ist allerdings, dass das Wort „Aufmerksamkeit“ tendenziell abgewertet wird. Diejenigen, die betonen wollen, dass sie auf Aufmerksamkeit noch viel halten, greifen begrifflich in eine höhere Schublade und reden von „Achtsamkeit“. Da wird dem chronisch unkonzentrierten Häppchenverzehr ein oft schnöseliges, oft mehr oder weniger offen verzweifeltes „Weil ich es mir wert bin“ entgegengehalten. Der Hintergrund scheint mir zu sein, dass die Kategorie „Aufmerksamkeit“ auf die Mediennutzung verengt wird. Aufmerksamkeit ist digital, Achtsamkeit analog. Aufmerksamkeit ist Smartphone, Achtsamkeit ist Mensch.

Vielleicht irre ich mich, aber falls nicht, haben diese Zuschreibungen etwas unangenehm „Manufactum“-haftes: In ihnen schwingt der Wunsch nach einem mehr oder weniger exklusiven Rückzug in einen Schutzraum gegen die Zumutungen der Gegenwart hier draußen mit. Die Aufmerksamkeitskrise – egal, Hauptsache, drinnen ist es schön kuschelig.

Solche Rückzugs- oder Auszeitwünsche finde ich zwar punktuell sehr verständlich, aber nicht als allgemeine Strategie im Umgang mit der Aufmerksamkeitskrise. Die allgemeine Strategie sollte nicht aufs Separee setzen, sondern auf den Hauptraum. Sie sollte auf die Inhalte unter den Häppchenschichten zurückkommen – und diejenigen stärken, die diese Inhalte hervorbringen oder hervorbringen wollen. Nehmen wir die Zuteilung unserer Aufmerksamkeit selbst in die Hand, anstatt in die Puppenstuben der Achtsamkeit auszuweichen.

Aber wo denn nun die angekündigte Liste mit den elf Gedanken bleibt, fragen Sie? Wie aufmerksam von Ihnen.