Kolumne: Trust Fiction!

Über Vertrauen in fiktionalen und dokumentarischen Erzählungen und der U-Bahn

Jenni Zylka

Jenni Zylka ist freie Autorin, Moderatorin und Filmkuratorin.

Jenni Zylka beschreibt das Spiel mit den Erwartungen: gute Cops gegen böse Cops, die große Liebe bis zum Abspann und was es mit Schwarzfahren zu tun hat, wer in Filmen als Erster stirbt.

Printausgabe tv diskurs: 25. Jg., 1/2021 (Ausgabe 95), S. 48-49

Vollständiger Beitrag als:

 

Vom Dichter Matthias Claudius, versatiler Autor von Der Tod und das Mädchen, Der Mond ist aufgegangen und dem Trinklied Auf und trinkt! Brüder trinkt! stammt das Zitat:

Die größte Ehre, die man einem Menschen antun kann, ist die, dass man zu ihm Vertrauen hat.“

In der Verbindung der beiden darin genannten Tugenden steckt der tiefere Sinn: Vertrauen ist Ehrensache. Oder sollte es zumindest sein.

Eine Doku-Serie wie Höllental, die ab Januar 2021 im ZDF zu sehen ist und sich mit dem unaufgeklärten Mord an der damals neunjährigen Peggy Knobloch beschäftigt, ist darum ein interessantes mediales Wagnis zum Thema „Vertrauen“: Die Akte Knobloch wurde im Oktober 2020 geschlossen, ein Täter nicht ermittelt. Die Polizei hat das Vertrauen enttäuscht, das ihr vom Fernsehpublikum stellvertretend für die Gesellschaft entgegengebracht wird. Kaum eines der vielen US-amerikanischen True-Crime-Fernsehformate, die ihre monströsen Verbrechen z.T. Jahrzehnte später durch neue Forschungsmöglichkeiten aufklären und insofern zum Vertrauenskanon beitragen, traut sich an ein solches Ende heran.

Im Fernsehen spielen neben den True-Crime-Formaten auch fiktionale Krimistoffe mit dem Thema „Vertrauen“, allerdings gehen sie meist anders aus: Zumindest in deutschen Fernsehkrimis werden die Täterinnen oder Täter größtenteils gestellt. Manchmal erst spät, manchmal mit der Hilfe von Zufällen – aber auf die Ermittlerinnen und Ermittler kann man sich verlassen. Sie schließen die Akte erst, wenn jemand im Knast sitzt. (Bei den meisten Fällen handelt es sich wegen der dramaturgischen Fallhöhe – sic! – um Kapitalverbrechen. Aus einer Verwarnung wegen eines marginalen Kaufhausdiebstahls macht man keinen Tatort.)

Weltweit ist das schon lange anders. Der Film noir brachte in den 1940er- und 1950er‑Jahren korrupte, zynische und nicht wirklich an Aufklärung interessierte Polizisten hervor. „Die fiktionale Krimihandlung bewegte sich vom klassischen ‚Whodunnit‘ zur ‚Was macht der Protagonist?‘-Atmosphäre“, schrieb der Kultur- und Filmhistoriker Prof. Andrew Spicer 2002 in einem Buch über den Film noir: Es ging nicht mehr darum, wer etwas getan hat, sondern was gemacht wurde – das Vertrauen, das Zuschauerinnen und Zuschauer in das System setzen, wird somit bewusst auf die Probe gestellt.
 

Trailer zu Asphalt Jungle



In The Asphalt Jungle von 1950 erfährt der bestochene Leutnant Ditrich zwar später eine Strafe – aber es gibt den „bad cop“, wenn auch vielleicht noch als ein einziges faules Ei in einem ganzen Schock. Im gleichen Jahr inszenierte Otto Preminger Where the Sidewalk Ends (Faustrecht der Großstadt), in dem ein New Yorker Polizei-Detective bei einer Schlägerei unabsichtlich einen Mann erschlägt, dessen Leiche heimlich verschwinden lässt – und peinlicherweise von seinem Revier den Auftrag bekommt, den Mörder zu finden. In Hell Is a City, einer britischen „Hammer Films“-Produktion aus dem Jahr 1960, stammt der Polizist aus den gleichen prekären Verhältnissen wie der von ihm gejagte Mörder. Al Pacino spielte 1973 den aufgrund der amoralischen Zustände bei der Polizei höchst enttäuschten Officer Frank Serpico. Jim McBride nannte 1986 seinen in New Orleans spielenden Thriller The Big Easy – darin ging es jedoch um schwere Bestechung bei der Polizei. (Immerhin musste nur der hauptkorrumpierte Polizist sterben, der sympathische Protagonist und Korruptions-Mitläufer [Dennis Quaid] gelobte Besserung und durfte überleben, allerdings mit einer Kugel im Hintern.) Abel Ferrara drehte 1992 Bad Lieutenant mit Harvey Keitel als drogensüchtigem Polizisten, der, wie die meisten Drogensüchtigen, seine Sucht über seine Ehre stellt – und das Vertrauen des Publikums schwerstens missbraucht. Auch er muss zur Strafe am Ende sterben. Und vertrauenswürdige Polizisten in Serien wie True Detective oder The Shield muss man eh mit der Lupe suchen.

Auch andere Filmgenres bauen auf Vertrauen: Wer eine RomCom schaut, würde empört das Popcorn heraufwürgen, wenn die Liebenden sich am Ende nicht bekämen – oder, schlimmer noch, eine oder einer von beiden stirbt. Filme wie Love Story von 1970 gelten darum als Drama, obwohl die Protagonisten formal – Anziehungskraft trotz unterschiedlicher Backgrounds, Humor – durchaus RomCom-Kriterien erfüllen. Der sogenannte „Publikumsvertrag“, den der Filmwissenschaftler Roland Zag 2005 als „emotional wirksames Erzählen mit ‚human factor‘“ beschrieb, bezieht sich genau auf dieses Phänomen: Hat man sich erst einmal mit einer Figur angefreundet, sie emotional hineingelassen, sich ihr empathisch zugewandt, dann ist es ein Vertrauensbruch, wenn die Erzählung sie sterben lässt. In manchen Fällen, z.B. in der Serie Dallas, kann eine solche Figur darum sogar auferstehen, so albern diese Wiederkehr im Rückblick erscheint: Wäre Bobby Ewing 1986 bloß tot geblieben – das hätte uns einiges erspart.

Steven Soderbergh enttäuschte 2011 in seinem dieser Tage viel zitierten Pandemiethriller Contagion auf eine faszinierend konsequente Art das Vertrauen des Publikums: Er ließ die meisten seiner Protagonisten, große Hollywoodstars wie Gwyneth Paltrow und Kate Winslet, am Virus sterben – und bildete damit eine momentan schmerzhafte Gewissheit ab. Denn Vertrauen scheint sich im Augenblick aus bekannten Gründen in einigen Fällen auf die Fiktion zu beschränken: Viele Menschen glauben eher grotesken Theorien, die aus dystopischen Horrorfilmen der 1950er‑Jahre zu stammen scheinen (entführte Kinder in unterirdischen Gewölben!), als der Wissenschaft.
 

Trailer zu Contagion



Vertrauen in das Falsche kann Gesellschaften gefährden und spalten. Insofern wäre es wunderbar, wenn möglichst schnell jemand die befremdlichen und bedrohlichen QAnon-Querdenker-Aluhut-Theorien in einer schönen fiktionalen Form verarbeiten und damit angemessen beurteilen könnte. Ich könnte mir eine kurzweilige Webserie vorstellen, in der eine als Heilpraktikerin praktizierende Impfgegnerin und ein aus der Incel-Szene stammender Rechtspopulist sich auf einer Demo kennenlernen, sich ineinander verlieben, durch den Glauben an die Liebe aus ihrer Isolation geholt werden und den alten Ideen abschwören. Die Heilpraktikerin könnte bestimmt auch die Glatze mit Homöopathie behandeln.

Das deutsche U-Bahn-Netz in Berlin, Hamburg, München und Nürnberg basiert übrigens ebenfalls auf Vertrauen. Es unterscheidet sich damit von den Nahverkehrssystemen in anderen großen Städten wie London, Paris oder New York: Wenn man dort die U‑Bahn nutzen möchte, muss man zunächst mit seinem Ticket eine Schranke öffnen – erst dann ist es möglich, den Transportbereich zu betreten (oder zu verlassen). Das kann natürlich schlichtweg an der Größe liegen: Das beschauliche Nürnberg hat eine süße halbe Million Einwohnerinnen und Einwohner, die sich alle kennen und vermutlich schnell 1,60 Euro anbieten, wenn ein Nürnberger vor dem Ticketautomaten verzweifelt und „Kruzifix!“ murmelnd in der Lederhos’n wühlt. New York City hat knapp 8,4 Mio. Einwohnerinnen und Einwohner, von denen sich keiner bzw. keine richtig kennt, und wenn – dann nur (siehe Hell Is a City) vom Drive-by-Shooting.

Doch die deutschen Nahverkehrer verlassen sich nicht allein auf Vertrauen. Stattdessen stellen sie Kontrolleure, die das Schwarzfahren empfindlich bestrafen. Denn es gibt schließlich auch noch ein anderes Zitat, das Lenin zugeschrieben wird und das dem eingangs erwähnten Claudius-Spruch diametral entgegengesetzt steht:

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“