Kolumne: Unreal Love

Jenni Zylka

Jenni Zylka ist freie Autorin, Moderatorin und Filmkuratorin.

Jenni Zylka beschäftigt sich mit Datingsshows und ihrer Wirkung auf die Zuschauer: zwischen Voyeurismus, Fremdschämen und echtem Mitfiebern für verbeulte Herzen.

Printausgabe tv diskurs: 24. Jg., 4/2020 (Ausgabe 94), S. 54-55

Vollständiger Beitrag als:

UnREAL ist eine außergewöhnliche Dramaserie. Sie handelt von der zwischen bipolarer und Borderlinestörung herumstolpernden Rachel (Shiri Appleby), Redakteurin einer Datingshow nach Bachelor-Vorbild. Rachel manipuliert und lügt, dass sich die Balken biegen – kreiert dabei jedoch Quotenhoch um Quotenhoch. Und gibt mit ihrer bitteren Intelligenz eine fantastische Heldin ab, weil man weiß: Tief drinnen spürt sie, was richtig und was falsch ist. Schließlich ist ihre versteckte moralische Integrität der Grund für ihr Leid.
 

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Kaputter als Rachel ist nur die Show-Erfinderin und Chefin Quinn (Constance Zimmer) – ihr Sarkasmus erreicht nach Jahrzehnten des gelebten und inszenierten Fernsehtrashs tatsächlich noch neue Dimensionen: „Jetzt hat sie sogar mich gekränkt“, murmelt irgendwann ein eigentlich abgestumpfter weißer Kameramann angesichts der sexistischen, rassistischen und menschenverachtenden Bonmots, die aus Quinn herausspritzen, wenn sie, wie eine Rachegöttin mit Walkie-Talkie, die Bildschirmwand in der Redaktion beobachtet.

Quinn bringt ihre Redakteurinnen und Redakteure dazu, aus jeder Kandidatin das Schlechteste – und damit das Beste für die Show – herauszuholen: Die aus einem Entzug kommende Alleinerziehende („Arme, ausgetrocknete Singlemum!“) wird zurück in die Sucht geführt, die PoC-Kandidatinnen, die traditionell nach der dritten Runde rausfliegen, werden vom PoC-Redakteur angehalten, klischierte Abziehbilder von „angry black women“ zu spielen und „beef“ mit der weißen Favoritin anzufangen – das Wort „Solidarität“ existiert ohnehin nicht. Dazu kämpft Rachel in horizontaler Dramaturgie mit ihrem Gewissen, mit ihren Gefühlen (zum Exfreund und dem doch gar nicht so dummen neuen Bachelor) und ihrer Krankheit. Und das alles führt so schnell (und dramaturgisch überhöht) zu Mord und Totschlag, dass man sich fragt: Was soll denn jetzt eigentlich noch kommen?

Dennoch haben die Showrunner Marti Noxon und Sarah Shapiro, deren Ideen teilweise aus eigenen Erfahrungen in der Redaktion von Datingshows stammen, bislang vier Staffeln dieser galligen Geschichte kreieren können, über die eine Kritikerin schrieb:
 

Wenn man den Bachelor liebt, wird man UnREAL mögen. Wenn man den Bachelor hasst, wird man UnREAL mögen“.


Das wiederum geht nur, weil auch die Vorbilder weiterhin existieren: Ein tiefschwarzhumoriges Format wie dieses, das den Fake, die Heuchelei, die Absichten deutlich macht und gleichzeitig ein Abgesang auf die Traumwelt der „echten“ Datingshow ist, braucht seine Modelle. Der Unterschied zwischen der realen Suche nach Liebe und UnREAL besteht vor allem darin, dass aus der Ambivalenz, sich an Leid und Peinlichkeiten anderer Menschen zu ergötzen, bei UnREAL kein Hehl gemacht und gleichzeitig die Geltungssucht von Kandidaten und Machern benannt wird. Denn auch hinter vermeintlich freundlichen und harmlosen Datingshows wie First Dates – Ein Tisch für zwei auf VOX, wo sich der Moderator in seinen Kommentaren zurückhält, steckt ein Konzept, das erfüllt werden muss: Überhaupt Menschen „matchen“ zu wollen, indem man neben sexueller Ausrichtung, Größe, Geschlecht und Alter ein paar dürftige Informationen einholt und jemanden sucht, zu dem das „passt“, kann keine ernsthafte Option sein. Sondern wird ausschließlich zu Unterhaltungszwecken behauptet.
 



Zwischen der heute eher rührend wirkenden Mutter aller Datingshows Herzblatt, dem pompösen Bachelor, den First Dates oder den aus Langeweile, Profilierungssucht und Zeigefreudigkeit erwachsenden, amourösen Dschungelcamp-Verwirrungen bestehen also durchaus Gemeinsamkeiten. Und selbst, wenn darüber aus offensichtlichen Gründen nicht Buch geführt wird: Man kann davon ausgehen, dass aus den Showpaaren selten längere Beziehungen entstanden sind. (Was natürlich kein Problem ist – die Kandidatinnen und Kandidaten suchen ebenso selten tatsächlich eine Lebenspartnerin bzw. einen Lebenspartner.)

Jene First Dates-Show, in der immerhin eine große Anzahl von Kandidaten das „Mismatch“ zugibt und sich gegen ein weiteres Treffen entscheidet, basiert zudem auf genau der gleichen Faszination wie die MTV Next-Show, in der bereits nach dem ersten Blick des Singles auf seine Bewerber „Next!!!!“ trompetet werden darf: zu komisch, wenn sich ein anderer blamiert. Und jene Schadenfreude und Häme braucht man sich nicht einmal durch ein schlechtes Gewissen trüben zu lassen, schließlich wurde niemand dazu gezwungen, mitzumachen. Auf einer küchenpsychologischen Ebene mögen zusätzlich Parallelen zum eigenen Leben gezogen werden. Die Erfahrung, die ein Fernsehpublikum seit Jahren mit künstlichem Verhalten gesammelt hat, könnte dazu führen, dass die teilweise inszenierten Kabbeleien und Flirtereien, die durch dementsprechende Kadrierung, Schnitte, Geräusche und Kommentare betonten angeblichen Gefühle wiedererkannt werden:
 

So ein beknacktes Date hatte ich auch schon mal. Und schau mal, wie der sie anguckt. Das klappt doch nie.


Das Ganze gibt es aber auch in Nett: Das sogenannte „Shippen“, abgeleitet von „relationship“, bedeutet, dass Fans beispielsweise einer fiktionalen Serie sich wünschen, zwei Helden würden romantisch verbunden oder gingen zumindest endlich zusammen ins Bett. Besonders oft und stark wird für Teenieserien geshippt, ganze Fan-Fiction-Stränge schmachten von fiktiven Küssen und Umarmungen – und manch eine bzw. einer kann das ewige Hinhalten nicht mehr aushalten und bricht vorzeitig ab: Gerade wenn einem eine Figur ans Herz gewachsen ist, wünscht man ihr schließlich nur das Beste, tolle Beziehungen und/oder jede Menge herausragenden Sex. Gewünscht wird das „Shippen“ nämlich nur, wenn die fiktionale Erzählung funktioniert, wenn emotionale Bindungen zwischen Publikum und Protagonisten gewachsen sind, wenn die Zuschauer sich in die ausgedachte Figur hineinfühlen – ein Kriterium für die Qualität einer Fernsehdichtung. Selbst Rachel von UnREAL möchte man irgendwann in den Armen des Bachelors oder zumindest ihres Exfreundes sehen – da hat man ihre harte Schale nämlich längst geknackt.

Manche Serienmacher integrieren die „Shipper“ sogar in ihre Drehbuchentscheidungen. Leider hatte das in der Vergangenheit nie, wie vielfach von Trekkies erträumt, zu einer körperlichen Beziehung zwischen Captain Kirk und Offizier Mister Spock geführt. Doch die Star Trek-Spin-offs laufen noch. Und auch im luftleeren Weltraum würde es garantiert hervorragend knistern.