Koumne: Meine Freundin Abby

Jenni Zylka

Jenni Zylka ist freie Autorin, Moderatorin, Filmkuratorin, Journalismusdozentin und Geheimagentin. Sie arbeitet für Radio, Print- und Onlinemedien, u.a. Spiegel Online, „taz“, „Tagesspiegel“, „Rolling Stone“, WDR, RBB, Deutschlandradio, Berlinale, Filmfest Emden, Filmfest Dresden und Akademie für Mode und Design. Sie veröffentlichte bei Rowohlt und Suhrkamp.

Parasoziale Bindungen sind etwas Schönes – und viel verlässlicher als die wackeligen echten Beziehungen zu realen Menschen.

Printausgabe mediendiskurs: 26. Jg., 3/2022 (Ausgabe 101), S. 44-45

Vollständiger Beitrag als:

„Man macht sich richtig Sorgen um Nate“, sagte vor ca. 20 Jahren eine Freundin zu mir, und ich musste ihr zustimmen. Nates und Brendas Beziehung war damals schon beendet, es ging ihm nicht gut, weder mental noch körperlich.

Nate starb kurze Zeit später, am Ende der 5. Staffel von Alan Balls Six Feet Under. Ich war traurig, berappelte mich aber ziemlich schnell. Nate war eh nicht der erste Freund, über dessen Verlust ich trauerte: Ein paar Jahre zuvor hatte mir schon der krankheitsbedingte Abgang (8. Staffel) von Dr. Greene zu schaffen gemacht – der Emergency Room war ohne ihn nicht mehr der gleiche. Immerhin blieb meine gute Freundin Abby dem Krankenhaus und mir noch etwas erhalten. Bis zur finalen Staffel jedenfalls.
 

Abby's First Appearance (Emergency Room, 30.07.2020)



Parasoziale Beziehungen zu fiktiven Charakteren zu entwickeln, ist – auch wenn die vermeintlichen Freund:innen zuweilen den Film- oder Serientod sterben – ein großes Vergnügen. Denn die Trauer um den fiktiven Verlust bleibt oberflächlich und lässt einen nach dem vermeintlichen Erleben gestärkt aus der Erfahrung hervorgehen: Es ist ein sicheres Trauern. Zudem stärken die Pseudobeziehungen das Eintauchen in die Scheinwelt. Der „Publikumsvertrag“, der auf Empfindungen wie Empathie, Lust, Neugier oder Geborgenheit basiert und der nur funktioniert, wenn der oder die Schauspieler:in sich öffnen, also die Offenheit „spielen“ kann, ist die Grundlage für das Miterleben und das willentliche Sich-manipulieren-Lassen.

Filmschaffende benutzen Tricks auf unterschiedlichen Ebenen, um diese Verbindung herzustellen. Schon die Umgebung, in der man fiktive (oder auch dokumentarische) Narrative erlebt, spielt eine Rolle. Der mit seiner immer dürftigeren Auslastung kämpfende Kinosaal etwa ist ein unbekannter Ort, in dem man mit fremden Menschen in der Dunkelheit sitzt, sie um sich herum spüren, aber kaum sehen kann (und nicht hören oder riechen sollte). Selbst im Bier-Popcorn-Zustand nimmt der Körper die Fremdheit des Raumes wahr, die Dunkelheit, die anderen, und geht ein wenig in Alarmbereitschaft: Man wird sensibel und konzentriert. Diese Aufmerksamkeit, die an die übrigen Kinobesucher:innen (außer im zur Kontaktaufnahme nutzbaren Pornokino) verschwendet ist, kommt der Rezeption des Films zugute. Filme wirken im Kino also nicht nur wegen der Größe der Leinwand, der Qualität des Sounds oder des Bewusstseins, dass man die Karte bezahlt und den Weg auf sich genommen hat, zuweilen stärker als im Home Entertainment.

Noch wichtiger ist die ausgereifte visuelle filmische Technik, Gefühlsregungen einer Figur zu verdeutlichen: Der Blick des oder der Zuschauer:in wird gelenkt und fällt genau dahin, wo die Regie ihn haben möchte. Das Spiel mit den Subjektiven, die Schuss-Gegenschuss-Auflösung, die Beleuchtung bilden eindeutige Wegweiser durch die Bildwelt.
 


Wenigstens SIE soll ihn stellvertretend küssen dürfen.



Wenn die beim Publikum bereits als einsame, fleißige, hochtalentierte Ärztin eingeführte Dr. Constance Petersen (Ingrid Bergman) in Hitchcocks 1945 entstandenem Thriller Spellbound ihr Love Interest Dr. Edwardes (Gregory Peck) zum ersten Mal sieht, hat sie bereits vorher am Krankenhaus-Abendbrottisch ihr rein wissenschaftliches Interesse an den Thesen des neuen Kollegen kundgetan. Die Kamera schleicht dabei distanziert am Tisch entlang, zeigt die plaudernden Ärzt:innen. Dann macht jemand Constance darauf aufmerksam, dass Edwardes sich zu ihnen gesellen wird. Constance dreht den Kopf nach links, wo (nach einem Schnitt) der umwerfende Edwardes den Saal betritt, ihn mit langen Beinen in Richtung Kamera durchschreitet, nah davor stehen bleibt, sodass wir in sein offenes Gesicht mit den vollen Lippen und den glänzenden Augen schauen können. Er blickt fasziniert nach rechts, genau in Constances Herz. Denn der folgende Gegenschuss zeigt, in der klassischen Weichzeichnung weiblicher Physiognomie jener Ära, Constances Antlitz, bei dem die Augenpartie stärker als der Rest beleuchtet ist. Sie wirkt wie vom Donner gerührt und öffnet in erotischer Vorahnung ihren Mund. Constance ist bis in die Flechtfrisur hinauf schockverknallt. Das sieht jeder, das Publikum sowieso. Und weil Constance die (geschlechtsübergreifend und unabhängig von der eigenen sexuellen Ausrichtung funktionierende) Identifikationsfigur des Films ist und sich als liebenswerte und sympathische Person gezeigt hat, möchte man unbedingt, dass sie diesen mysteriösen, großen Mann bekommt: Man „shippt“ Dr. Constance Petersen und Dr. Anthony Edwardes. Wenn man ihn schon selbst nicht haben kann, soll wenigstens SIE ihn stellvertretend küssen dürfen.

Der seit ein paar Jahren vor allem bei Serienfans „Shippen“ (von „relationship“) genannte Wunsch nach Beziehungen für seine Lieblingscharaktere ist ein Indikator für die Funktionalität der selbstlosen parasozialen Verbindung: Man gönnt seinem Freund oder seiner Freundin alles Gute, weil man sich ihm oder ihr verbunden fühlt. Neben Drehbuch, Schauspiel, Inszenierung, Licht und Kamera helfen auch die anderen Gewerke kräftig mit beim Shippen – und bei der Manipulation: Bei Hitchcock setzen Miklós Rózsas schmelzende Geigen in obiger Szene erst ein, als Edwardes Constance anschaut, und verstärken die Emotionen auf beiden Seiten bis mindestens ins hohe C. Wessen Herz jetzt nicht gemeinsam mit Constances (und dem von Edwardes) pocht, der hat keins.
 

Im Gegensatz zu echten können parasoziale Beziehungen einen dabei nicht oder kaum enttäuschen oder gefährden. Es mag sein, dass das „Bingen“ zuweilen einigermaßen relevante Tätigkeiten (Arbeiten, Essen, Kinder versorgen, Hygiene) verzögert. Die meisten Menschen können jedoch (ab einem bestimmten Alter, was wichtig für den Jugendschutz ist) zwischen der realen und der fiktiven Welt unterscheiden, sie nutzen die Flucht in die Geschichte als willkommenen Eskapismus.

Daphne du Maurier thematisiert dies in ihrem Roman Ein Tropfen Zeit, in dem der Protagonist Richard von seinem Studienfreund Magnus, einem Biophysiker, in dessen Haus an der wilden Küste von Cornwall eingeladen wird. Dort angekommen, findet Richard zwar keinen Magnus vor, aber ein Experiment, mit dem sich sein Freund beschäftigt: Magnus hat eine Droge entwickelt, nach deren Konsum man 600 Jahre in der Zeit zurückreisen kann – jedenfalls im Kopf. Während die Wirkung des „Tropfen Zeit“ anhält, stapft Richard durch das menschenleere moderne Cornwall, sieht dabei jedoch das Cornwall des 14. Jahrhunderts, bleibt aber selbst in dieser vorgetäuschten Vergangenheit als Person unsichtbar. Sein Weg ist an das Leben eines „Führers“ aus dem Mittelalter gebunden: Er ist gezwungen, einem gewissen „Roger“ zu folgen. Richard wird somit im doppelten Sinne das Paradebeispiel eines Zuschauers, der eine „parasoziale Verbindung“ mit einem (fiktiven bzw. verstorbenen) Charakter eingeht. Richards Faszination für die Vergangenheit, die sich aufgrund eines Love Interests aus dem 14. Jahrhundert steigert, führt allerdings dazu, dass der Eskapismus tatsächlich bedrohliche Züge annimmt: Selbst als er merkt, dass die Droge Nebenwirkungen hat und die Rückkehr in die Gegenwart – und die erzählte Realität – immer schwieriger wird, lässt Richard nicht von seinem neuen Hobby ab.

Auch ich habe jetzt leider keine Zeit mehr, mich über das Thema auszulassen. Denn ich habe meiner Freundin Belle versprochen, wieder etwas Zeit mit ihr zu verbringen. Sie arbeitet als Luxus-Callgirl in London und schreibt das Secret Diary of a Call Girl. Und obwohl ich ihre Geschichten schon kenne (wir sind seit rund zehn Jahren und vier Staffeln befreundet), darf sie sie gern noch einmal erzählen und mich dabei ein bisschen von der Arbeit abhalten. Schließlich: That’s what friends are for. Ob echt oder nicht.

 

Belle and her boss almost have sex (Secret Diary Of A Call Girl, 11.04.2014)