Parolen für die Gutmenschenjagd
Wie die Neue Rechte Begriffe kapert
Vorab ein Zitat:
Viele dieser Informationen sind uns europäischen Völkern von unseren Regierungen und den politisch korrekten, etablierten Medien vorsätzlich vorenthalten worden. Mehr als 90 % der EU- und der nationalen Parlamentarier und mehr als 95 % der Journalisten sind Befürworter des europäischen Multikulturalismus und unterstützen damit auch die anhaltende islamische Kolonisierung Europas; jedoch haben sie NICHT die Erlaubnis der Völker Europas, diese Lehrmeinung einfach so in die Tat umzusetzen.
Das sind vertraute Töne, oder? „Politisch korrekt“, „etablierte Medien“, „Multikulturalismus“, „islamische Kolonisierung Europas“: ein Schlagwortinventar, das so oder ähnlich heute zu jeder Pegida-Veranstaltung gehört und in jedem zweiten Onlinekommentarforum schrillt. Was die Quelle des Zitats angeht, sei allerdings noch um ein wenig Geduld gebeten, ich reiche sie später nach.
Ein Geschenk der Linken an die Rechte
Fürs Erste springen wir ins Jahr 1994 zurück, denn damals erschien in Erstausgabe bei Edition Tiamat Das Wörterbuch des Gutmenschen. Es war ein Projekt aus Kreisen der undogmatischen Linken. Weite Teile des „Titanic“-Umfeldes schrieben daran mit, aber auch z.B. Roger Willemsen, Katharina Rutschky und Harry Rowohlt. Sie traten an, um „Betroffenheitsjargon und Gesinnungskitsch“ zu sezieren, so verhieß es der Untertitel. Damit führte das Wörterbuch des Gutmenschen die Tradition der beiden schon Mitte der 1980er-Jahre veröffentlichten Dummdeutsch-Bände fort und bot ein Musterbeispiel für linke Kritik an der Linken: am Geschwurbel in den eigenen Reihen, an Denkfaulheiten und an autoritären Neigungen, die sich mit Floskeln tarnten.
Dass der Gutmensch (mehr oder weniger) links zu verorten sei, galt damals schon als ausgemacht. Und so begann seine steile Karriere als Kampfbegriff. Das Spottwort „Gutmensch“ war ein Geschenk der Linken an die Rechte. Wobei es der Rechten natürlich nicht um Binnendifferenzierung im gegnerischen Lager ging, sondern um einen neuen Lieblingsmythos, zu dessen Verkörperung ihr noch das geeignete Wort fehlte: den Mythos von der politischen Korrektheit. Seither sind die beiden unzertrennlich, der „Gutmensch“ und sein Attribut „politisch korrekt“.
Das Spottwort ›Gutmensch‹ war ein Geschenk der Linken an die Rechte.
Auch die Analyse von PC als konservativem Mythos – der dazu dient, das Hinterfragen von Herrschaftsverhältnissen zu diskreditieren – stammt übrigens schon von 1995: Ein junger amerikanischer Akademiker namens John K. Wilson widmete ihr damals ein ganzes Buch (The Myth of Political Correctness. The Conservative Attack on Higher Education). 1998 legte die Klagenfurter Sprachwissenschaftlerin Brigitta Huhnke eine vergleichbare Untersuchung für den deutschen Sprachraum vor (Ochsengebrüll. Die Debatte um Political Correctness). Diese frühen Einblicke in den Argumentationsmechanismus, der nicht nur konservatives Unwohlsein mit Gender-Mainstreaming und dergleichen verbrämen, sondern oft auch reaktionäres, diskriminierendes und chauvinistisches Gedankengut rechtfertigen soll, haben nicht verhindern können, dass der Mythos „PC“ bei uns die politischen und gesellschaftlichen Debatten bis heute prägt.
Die coolen Konservativen
Doch bleiben wir noch kurz in den späten 1990er-Jahren. Es war die Zeit, als die Konservativen den Pop für sich entdeckten. Was nicht heißen soll, dass sie vorher keinen Sinn für Pop gehabt, auch nicht, dass sie ihn nur konsumiert, nicht produziert hätten. Neu war aber, dass sie ihn sich als politische und symbolische Strategie zu eigen machten. Dass Burschenschaftler sich augenzwinkernd ein Che-Guevara-Poster auf den Paukboden heften konnten. Dass die Junge Union mit einem Rosa-Luxemburg-Spruch warb („Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“).
Die Gründe für diese Freude der Konservativen am Pop und sogar an vermeintlich urlinken Agitprop-Methoden sind vielfältig. Eine wichtige Rolle spielten Renegaten wie Reinhard Mohr, Matthias Horx oder auch Henryk M. Broder, die das diskursive Handwerkszeug der Linken und die schnoddrige Sprache ihrer Spontijahre beim Seitenwechsel mitbrachten. Zugleich boten die Erfolgsautoren der sogenannten Popliteratur, also Christian Kracht, Benjamin von Stuckrad-Barre etc., ein lückenlos durchironisiertes (und sich deshalb postironisch gebendes) Schnöseltum als entschieden nicht linkes Cool an. Die Auflösung der hergebrachten ideologischen Muster in der Spaßgesellschaft konnte kommen, bis hin zu Guido Westerwelles Projekt-18-Schuhsohlen.
Aber nicht nur die Konservativen übernahmen um die Jahrtausendwende „linke“ Strategien. Neonazis begannen bei Demonstrationen das Outfit des autonomen „schwarzen Blocks“ zu kopieren und auf ihren Transparenten klassisch linke Spruchbausteine wie „Revolution“ oder „Kapitalismus tötet“ zu benutzen. Solche Mimikry nahm in greller Weise einiges von dem vorweg, was heute die – allerdings um einen bürgerlichen Anstrich bemühte – Querfront-Bewegung ausmacht, die einen Brückenschlag zwischen rechts außen und links außen im Widerstand gegen das System postuliert. Und Ähnliches geschieht, wenn die gutmenschlich linke Protestform der Menschen kette (für den Frieden, gegen Rassismus) umgewidmet wird zur „lebenden Grenze“ gegen den „Ansturm“ der als „Invasoren“ verteufelten Flüchtlinge.
Das Mantra von der linken Diskurshoheit
Weitaus länger als die Popliteratur hat sich eine ihrer Begleiterscheinungen gehalten: der konservative Popjournalismus. Was zu den Hochzeiten von „Spex“ in den 1980er-Jahren noch wie ein Widerspruch in sich geklungen hätte, erwies sich Ende der 1990er-Jahre als ideales Vehikel für einen neoliberalen Zeitgeist. Ein Autor wie Ulf Poschardt, der den zwischen Academia und Trendscouting schillernden Popduktus aus dem Effeff beherrschte und dabei lauthals schwarz-gelbe Positionen verfocht, war als Typus neu. Poschardt war nicht der Einzige, der dieses Verständnis von publizistischer Avantgarde auslebte, aber der Auffälligste und Hartnäckigste. Dabei sah (und sieht) er die Linken als „Stehengebliebene“ an und sich selbst als einen derjenigen, die weitergehen und das nach wie vor unvollendete „Projekt Moderne“ vorantreiben. Er kehrt also die traditionellen Zuschreibungen um: Die Linken vertreten das Alte, Überkommene, die Konservativen (bzw. Neoliberalen) den Fortschritt. Dieser Links-ist-out-Dreh zählt zum rhetorischen Standardrepertoire des Neoliberalismus, doch Poschardt weiß ihn besonders originell anzuwenden; er versuchte sogar, den als Plagiator überführten CSU-Popper Karl-Theodor zu Guttenberg zum Genie des Samplings umzudeuten, zum „Jay-Z der bürgerlichen Politik“.
Der ›Gutmensch‹ und sein ›Meinungsterror‹ sind als Feindbild für die Neue Rechte unverzichtbar.
Um den Rollentausch perfekt zu machen, beschwört die neoliberale Publizistik gebetsmühlenhaft die kulturelle Hegemonie der Linken. „Sie sind Mainstream geworden, sie üben Herrschaft aus, dominieren Diskurse und Lehrpläne, haben mächtige Netzwerke und einen massentauglichen Populismus“, so tönte wiederum Poschardt im Jahr 2005, und dieselbe Leier erklingt ja bis heute. Denn die Parole vom „linken Mainstream“ hat den Charme, dass man sie unverdrossen weiter verwenden kann, auch wenn z.B. Rot-Grün längst abgewählt ist. Dann hat sich eben die Regierung Merkel dem „linken Mainstream“ angepasst.
Eine ganze Reihe konservativer Diskursköpfe – neben den schon genannten z.B. Jan Fleischhauer und Matthias Matussek (der einst, lange vor dem Aufbruch in sein katholisches Abenteuer, am Wörterbuch des Gutmenschen mitgeschrieben hatte) – hämmerte die Erzählung von der linken Dominanz jahrelang in die öffentlichen Debatten hinein, während die politisch tonangebende Ideologie, die eben doch der Neoliberalismus war, uns die Banken- und die Eurokrise brachte und eine „schleichende Entsolidarisierung“ der Gesellschaft bewirkte, wie die Langzeitstudie Deutsche Zustände der Universität Bielefeld (2002–2011) zeigt.
Die Sprache der Rüpel
Bei den in postmoderner Ironie geschulten Publizisten, die sich im Nachhall der konservativen Verpoppung daran machten, die angebliche Vorherrschaft der Linken im Land zu beenden, hatte es noch etwas Spielerisches, wenn sie mit Vokabeln wie „linksgrün“, „Staatsfeminismus“ oder „Gesinnungsdiktatur“ hantierten. Die Freude an der Provokation ist schließlich eine der schönsten Freuden.
Doch mit dem Auftrumpfen der Neuen Rechten in den letzten fünf Jahren hat sich das Klima gewandelt. Als Portier betätigte sich ein SPD-Mitglied. Und zwar so erfolgreich, dass selbst der berüchtigte deutschnationale Strippenzieher Götz Kubitschek nicht müde wird, ihm dafür zu danken. „Das Tor geöffnet für diesen Einzug konservativer, neurechter, nationaler Projekte in den Wahrnehmungsbereich der Masse hat zweifelsohne Thilo Sarrazin mit seinem unerreichten Bestseller Deutschland schafft sich ab“, schreibt Kubitschek im Juni 2016 in seinem Sezession-Blog und gibt bei der Gelegenheit auch zu Protokoll, dass die Neue Rechte nach wie vor „Hunger nach neuen Begriffen“ habe.
Diese „neuen Begriffe“ sucht sie sich seit Jahren zusammen und ist penetrant bestrebt, sie im allgemeinen Sprachgebrauch zu verankern. Sie findet die Begriffe bei Leserbrief-Rüpeln („Lügenpresse“, „Geschlechtergleichschaltung“, „Multikulti-Ideologie“) und Verschwörungstheoretikern („Islamisierung“, „Invasoren“, „Bevölkerungsaustausch“), bei wütenden Stammtischsenioren („besorgte Bürger“, „linksversifft“, „68er-verseucht“) und Salonrassisten („kultur- und raumfremde Menschen“, „Heimatgefühl“); und sie bedient sich ungeniert aus dem Fundus, den linke Satiriker und konservative Ironiker in den 20 Jahren zuvor zusammengestellt haben. Der „Gutmensch“ und sein „Meinungsterror“ – auch dies bereits ein Eintrag aus dem Wörterbuch des Gutmenschen, erweiterte Ausgabe bei Piper, 1998 – sind als Feindbild für die Neue Rechte unverzichtbar. Und das Ende 2015 erschienene Handwörterbuch rechtsextremer Kampfbegriffe vermerkt zum Stichwort „Political Correctness“: „Die extreme Rechte stellt nicht die Existenz und Verwendung diskriminierender Sprache, sondern den Kampf dagegen als Gewalt dar.“ Sprich, sie benutzt denselben Mythos, den Konservative seit zwei Jahrzehnten predigen.
Schwadroneur und Schuljungen
Das ist kein Wunder, denn die Neue Rechte nennt sich selbst konservativ. Die Reihung bei Kubitschek – „konservative, neurechte, nationale Projekte“ – ist programmatisch. Zum einen in Abgrenzung gegen eine „alte Rechte“, verkörpert von der NPD und den einschlägigen Neonazigruppen, die als gesellschaftlich erledigt gilt; zum anderen, um zu unterstreichen, dass man mehrheitsfähig werden will. „Wir sind die wahren Konservativen“, so behaupten die AfD und ihr Umfeld, während die Regierung Merkel ja in den „linken Mainstream“ abgeirrt ist.
Für Konservative im herkömmlichen Sinn, also CDU/CSU-Anhänger und bürgerliche Liberale, ist diese Vereinnahmung ein gewaltiges Problem. Das Etikett „konservativ“ wird im großen Stil für Positionen gekapert, die die repräsentative Demokratie verächtlich machen. Entsprechend deutlich haben sich etwa Ulf Poschardt und Jan Fleischhauer von der Neuen Rechten distanziert, und einige konservative Autoren, insbesondere die Publizistin Liane Bednarz, sind heute sogar federführend im Widerstand gegen die völkische Demagogie.
Das Etikett ›konservativ‹ wird im großen Stil für Positionen gekapert, die die repräsentative Demokratie verächtlich machen.
Wie gefährlich die neurechte Rhetorik ist, zeigt das Gespräch, das Jens Jessen und Ijoma Mangold unlängst für die „Zeit“ mit dem AfD-Ideologen Marc Jongen führten. Nicht einen der Propagandabegriffe, die Jongen inflationär gebraucht („das Eigene“, „EUdSSR“, „Willkommenskult“, „Linksradikalismus der Bundesregierung“ etc.) verstehen die beiden sonst so sprachmächtigen Feuilletonisten zu hinterfragen. Wie staunende Schuljungen sitzen sie dem wahnhaften Schwurbel des Philosophiedozenten gegenüber, das Interview missrät zur Werbeplattform für die AfD.
In diesem Kampf der Worte ist weit mehr kritische Sorgfalt gefragt, als sie Jessen und Mangold an den Tag legen. Denn „Rassisten sind im Begriff, das gesellschaftliche Klima im Land nachhaltig zu vergiften“, wie Farhad Dilmaghani vom Netzwerk Deutschplus warnt.
Ach ja: Das Zitat am Anfang dieses Textes stammt von dem norwegischen Massenmörder Anders Breivik, der am 22. Juli 2011 in Oslo und auf der Insel Utøya 77 Menschen tötete und zuvor noch sein Manifest 2083. Eine europäische Unabhängigkeitserklärung vollendete. Auch Breivik bezeichnet sich als konservativ.