Public Value in Unterhaltungsformaten?

Ein Plädoyer

Joachim von Gottberg

Prof. Joachim von Gottberg ist Chefredakteur von tv diskurs.

Die Massenmedien spielen für den Diskurs über das Gemeinwohl eine zentrale Rolle. In Demokratien mit vielen Millionen Menschen müssen Gesetze und Regelungen bekannt gemacht werden, um sie durchsetzen zu können. Wie wollte man z.B. die schnell wechselnden Coronaregeln für Schulöffnungen oder Testzwang ohne Medien in der Gesellschaft kommunizieren? Durch ihre zentrale Funktion kommt den Medien zwangsläufig eine große Verantwortung für den Public Value zu. Was bedeutet das für die Bewertung der unterschiedlichen Programmbereiche?

Printausgabe tv diskurs: 25. Jg., 3/2021 (Ausgabe 97), S. 45-49

Vollständiger Beitrag als:

 

Medien informieren über die Politik und ihre Protagonisten, nur so können die Bürger einschätzen, wen sie wählen wollen und welche Gesetze und Verordnungen geplant oder umgesetzt werden. Medien kontrollieren die Mächtigen, indem sie ihr Fehlverhalten aufdecken, was dann die Meinungsbildung und die Chancen bei Wahlen entscheidend beeinflussen kann. Sie synchronisieren gewissermaßen die Vorstellungen der Bürger*innen, sie sorgen dafür, dass die Menschen zumindest eine rudimentäre Information über die Regelungssysteme oder die sozialen Hilfsangebote unseres Staates erhalten. Das dient sicher dem Gemeinwohl, denn ohne diese Kommunikationsmöglichkeit würde die demokratische Gesellschaft schlicht nicht funktionieren.

Den Medien wird auf verschiedenen Ebenen eine Verantwortung für die möglichst positive Entwicklung der Gesellschaft zugeschrieben: Sie sollen die Interessen der Gemeinschaft über die partikularen Interessen des Individuums stellen. Für den Journalismus, die Berichterstattung oder auch für Dokumentationen ist die uneigennützige Wahrhaftigkeit ein hoher Wert:

Es ist die Interessenlosigkeit im Kontext der Objektivitätsnorm (Gemeinwohlnorm für mediales Handeln selbst), die garantiert, dass das journalistische Handeln des öffentlich Machens letztlich dem Gemeinwohl dient […].“ (Filipović 2017, S. 12)

Aber wie sieht es etwa mit der Werbung aus, die im Wesentlichen dem Verkauf und damit den wirtschaftlichen Interessen des Werbenden dient? Hier kann man wohl nur Grenzen definieren, etwa durch den Deutschen Werberat, um dem Gemeinwohl zumindest nicht zu schaden. Ähnliches gilt für die Unterhaltung, beispielsweise durch die Bestimmungen des Jugendschutzes. Aber anders als die Werbung erfüllt die Unterhaltung wichtige gesellschaftliche Funktionen.
 

Berichterstattung versus Unterhaltung

Die pluralistischen Medien managen die Gesellschaft und helfen bei der Konstruktion einer Vorstellung darüber, wie wir uns das Gemeinwohl vorstellen: auf jeden Fall vielfältig, was eine einheitliche Definition nicht gerade erleichtert. Welche Rolle spielt nun der Einzelne bei der Definition von Gemeinwohl in der Demokratie? Das Grimme-Institut hat in einem Onlineprojekt Zuschauer*innen die Möglichkeit gegeben, Wünsche zur Zukunft des Fernsehens zu äußern1, die ARD hat am 31. Mai 2021 ein ähnliches Projekt gestartet (ARD 2021). Das ist immerhin ein Versuch, sich Publikumserwartungen anzunähern. Allerdings tendieren Menschen bei solchen Befragungen oft dazu, hochwertiges, kulturell bildendes Fernsehen einzufordern, letztlich aber dann abends doch den Krimi oder die Unterhaltungsshow zu favorisieren. Würde man Zuschauerbefragungen ernst nehmen, müssten z.B. die Durchschnittsquoten der Sender ARTE und 3sat weit über ihrem tatsächlichen Marktanteil von 1,4 % (3sat 2020) und 1,2 % (ARTE 2020) liegen (vgl. Weidenbach 2021a; 2021b).

Die GfK-Quoten sind da mit Blick auf die tatsächlichen Wünsche der Zuschauer wahrscheinlich verlässlicher. Die Tagesschau erreicht – vor allem während der Coronapandemie – mit über 11 Mio. Zuschauern durchaus respektable Quoten (ots/Presseportal 2021). Auf Instagram schafft es die Tagesschau-App immerhin auf 12 Mio. Interaktionen pro Monat (Weinhold 2020). Aber die längste Verweildauer gilt wohl der Unterhaltung, vor allem den Krimis: Der Münsteraner Tatort mit dem Rechtsmediziner Prof. Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) und Hauptkommissar Frank Thiel (Axel Prahl) als Ermittler erreichte zwischen 2018 und 2020 durchschnittlich mehr als 12 Mio. Zuschauer. Wetten, dass..?, lange Zeit das Flaggschiff des ZDF, sahen jahrelang um die 10 Mio. Menschen (Weber 2014), Florian Silbereisen erreichte mit seiner Schlagerchampions-Show etwa 6 Mio., allerdings mit abnehmender Tendenz (Imming 2021). Auch wenn solche Unterhaltungsformate als „Schnulzensendung“ abqualifiziert werden: Kann man bei so beliebten Shows bezweifeln, dass sie dem Gemeinwohl dienen? Sorgen sie nicht immerhin bei bestimmten Zuschauergruppen für einen glücklichen Abend?

Dass Medien eine Verantwortung für Public Value besitzen, ist wohl nicht zu bestreiten – kritisch wird es jedoch, wenn man daraus konkrete Konsequenzen ableiten will. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass man auf dem Papier anspruchsvolle Formulierungen vorfindet, ohne dass diese erkennbar im Programm oder im Auftritt des Senders sichtbar werden. Soll sich öffentlich-rechtliches Fernsehen von privaten Sendern abgrenzen und was soll es zeigen? Aus Sicht des ehemaligen ARD-Vorsitzenden Ulrich Wilhelm alles:

Es kann nicht im gesellschaftlichen Interesse liegen, dass sich ARD, ZDF und Deutschlandradio darauf beschränken müssen, die Lücken und Nischen zu füllen, die kommerzielle Anbieter nicht abdecken, weil sie damit kein Geld verdienen können. Wenn der öffentlich-rechtliche Rundfunk alle Menschen erreichen will und erreichen soll, dann gehören Sport und Unterhaltung genauso dazu wie Bildung, Kultur und Information.“ (Wilhelm 2018)

Aber müssen dann die gebührenfinanzierten Sender ARD und ZDF nicht wenigstens qualitativ hochwertige Unterhaltung bieten? Im Prinzip ja, aber was das ist, liegt stark im Auge des Betrachters. Es gab viele Versuche, Qualität festzumachen und den Eigennutz der Medienmacher zu reduzieren, etwa in den 1990er-Jahren die Forderung nach einer „Stiftung Medientest“. Aber letztlich setzte sich die Haltung durch, dass der Zuschauer selbst entscheiden muss, was er auswählt und welche Ansprüche er anlegt.
 

Fußball

Trägt z.B. die Übertragung von Fußballspielen zum Gemeinwohl und zur Grundversorgung bei? Der Bezahlsender Premiere (heute Sky) wollte 1997 nach britischem Vorbild die Übertragungsrechte der Bundesliga kaufen, damit wären deren Spiele nur mit einem Abo des Pay-Senders zugänglich gewesen. Dies führte zum Streit darüber, ob das Recht auf Fußball zur Grundversorgung gehört und letztlich dem Gemeinwohl dient (vgl. Jakobs/Vehlewald 1997). Für den gesellschaftlichen Fortschritt oder den sozialen Zusammenhalt ist es eher unerheblich, ob Mannschaft A einen Ball häufiger als die Mannschaft B in ein Rechteck aus Aluminium schießt. Das würden ungefähr 26 Mio. Deutsche so sehen, die am Fußball überhaupt kein oder nur ein geringes Interesse haben. Für ca. 43 Mio. Deutsche hat der Fußball hingegen eine hohe Bedeutung (vgl. Pawlik 2020).

Kulturhistoriker sehen im spielenden Menschen (Homo ludens) eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung von Kultur und Recht (vgl. Huizinga 2011). Fußballspiele symbolisieren für Fans die Lebenswirklichkeit: Es ist eine harte, körperliche Auseinandersetzung mit Regeln, es geht um Leistung, aber auch um Fairness, es geht um Erfolg, um Glück oder Pech. Alle menschlichen Gefühle kann der Fan im Spiel miterleben. Er identifiziert sich meist mit einer Mannschaft und kann so deren Aufstieg und Fall, ihr Glück und Unglück, ihre Verfehlungen oder Stärken teilen.

In „seinem“ Verein fühlt er sich wie ein imaginäres Mitglied. Spieler, Trainer oder Vereinsmanager sind öffentliche Personen, die man über die Medien so gut zu kennen glaubt, dass so etwas wie eine „parasoziale Beziehung“ entsteht: Obwohl man die Personen nicht persönlich kennt, fungieren sie als „imaginäre Freunde“. Man leidet mit ihnen, man freut sich mit ihnen, man überlegt, wie man selbst in bestimmten Situationen gehandelt hätte (vgl. Gebauer 2018). Der Zuschauer fühlt sich zugehörig zu einer Fußballmannschaft, deren Höhen und Tiefen er zu seinen eigenen macht, bei der er sich mitfreuen und mitleiden kann, ohne dass er sich in seinem realen Leben einem Risiko aussetzt. Bei dieser „parasozialen Beziehung“ geht es um das Einüben sozialer Handlungen, das Umgehen mit Gefühlen, die Entwicklung von Wertmaßstäben, wenn beispielsweise das aggressive Verhalten eines Spielers mit der Gelben oder Roten Karte getadelt wird oder wenn Hooligans von bestimmten Spielen ausgeschlossen werden (von Gottberg/Lamster 2018).
 

Unterhaltung schafft Emotionen

Während die klassische Berichterstattung meist emotionslos und distanziert über schockierende Katastrophen oder Tötungen von Menschen durch Krieg oder Verbrechen in der Welt berichtet, simuliert die Unterhaltung Wirklichkeit, vor allem dann, wenn etwas danebengeht und die Normalität zerstört wird: Streit und Mord, Liebeskummer, Gier und Korruption oder krankhafte Eifersucht werden in erfundene Geschichten verpackt und meist maßlos übertrieben. Der Zuschauer wird für ca. 90 Minuten durch seine Fähigkeit, sich in fiktionale Personen und Handlungen einzufühlen, ein anderer Mensch in einem anderen Leben. Er fürchtet sich und leidet mit den Figuren, er empfindet ihren Liebeskummer und er freut sich, wenn am Ende einer aussichtslosen Liebe dann doch eine Beziehung entsteht.

Es ist eine symbolische Repräsentation: Wir erleben eine Handlung und die Gefühle der Protagonisten fast so, als wären wir in deren Realität – wir haben allerdings den Vorteil, dass wir unsere Gefühle kontrollieren können und auch in Horrorfilmen keiner wirklichen Gefahr ausgesetzt sind. Wenn die Angst zu groß wird, können wir wegschauen oder uns klarmachen, dass sie nach dem Ende des Films vorbei ist. Wir können üben und testen, wie wir mit Situationen umgehen würden, die wir hoffentlich nie erleben werden. Untersuchungen von Vitouch zeigen, dass Horrorfilme Menschen in einer Art Konfrontationstraining helfen können, diffuse Ängste zu bewältigen: Sie lernen, Angst auszuhalten – und können sie gleichzeitig kontrollieren (Vitouch 1997; 2007). Durch ihre Genrekenntnisse wissen sie, dass die Personen, mit denen man den Film durchlebt, am Ende gut aus der Geschichte herauskommen. Oft werden diese Filme wiederholt angeschaut, um sich zu vergewissern, dass einem nichts passiert und das Ergebnis das gleiche ist.
 

Unterhaltung vermittelt Informationen

Zeigen öffentlich-rechtliche Sender zu viele Kriminalfilme? Sind Filme, in denen Mord und Totschlag im Vordergrund stehen, in dieser Menge noch verantwortbar?

Tatsächlich beginnt der Kriminalfilm meist mit einem Verbrechen oder einem Mord, der mehr oder weniger detailliert dargestellt wird. Im Mittelpunkt des Films steht aber die Aufklärung des Normbruchs. Ziel des Ermittlers ist es, die Moral, das Gesetz und die Normalität wiederherzustellen. Es geht also nicht um das Böse, sondern um dessen Überwindung. Anders als die Berichterstattung über einen Mordfall erweitert der Kriminalfilm unsere kognitive Wahrnehmung durch die emotionale Einfühlung in Opfer, in Täter, in Angehörige und in die Motive der Detektive, die meist ihr Privatleben vernachlässigen, weil ihre Pflicht zur Aufklärung Priorität hat.

Mancher Krimi nutzt das Setting und die Aufmerksamkeit des Zuschauers, um Informationen aus dem Berufsleben einzelner Protagonisten, wissenschaftliche oder philosophische Kenntnisse oder Gedanken zu vermitteln oder interessante Orte zu beschreiben. Krimis, aber auch Serien prägen unser Geschichtsbild, denken wir an die US-Serie Holocaust: Die Geschichte der Familie Weiss, die das Thema der Judenverfolgung mehr in das Bewusstsein der Menschen implementiert hat als mancher Geschichtsunterricht. Untersuchungen von Kommunikationswissenschaftlern der Universität Wien belegen, dass durch Unterhaltungssendungen vermittelte Informationen im Gedächtnis bleiben: „Entertainment Education für ein erwachsenes Fernsehpublikum wurde in Peru im Jahr 1969 per Zufall durch die Telenovela Simplemente María entdeckt. María war eine starke Frau, die aus der Armut herauskam. Sie hatte gute Ideen, wurde Mode­designerin und hat ihre Entwürfe mit einer Singer Nähmaschine erfolgreich umgesetzt; nebenbei hat sie noch die große Liebe gefunden. Die Telenovela hat einen großen Verkaufserfolg von Singer Nähmaschinen bewirkt, und viele Menschen haben sich, motiviert durch María, in Kursen angemeldet, um Lesen und Schreiben zu lernen. Es entwickelte sich eine ganz starke soziale Bewegung.“ (Rosenzweig 2014, S. 74) Die Forscher fanden durch Prä- und Postbefragungen heraus, dass etwa medizinische Informationen in Arztserien vor allem dann gut behalten werden, wenn die Szene mit starken Emotionen verbunden ist (ebd.). Fazit: Unterhaltung ist immer auch Information (Grimm 2014).
 

Panamericana de Televisión (Perú): Simplemente María (1969)



Unterhaltungsshows

Auch hier gibt es starke Effekte von parasozialer Beziehung: Der Zuschauer setzt sich über seine imaginären Freunde mit einem Verhalten auseinander, das er aus seinem Umfeld so nicht kennt, und erweitert auf diese Weise seinen Erfahrungshorizont. Bei Wer wird Millionär? (RTL) sind die Fragen für eine respektable Allgemeinbildung meist nicht relevant, es wird aber gelernt, Risiken einzuschätzen und bei einer Frage systematisch durch Ausschluss zu raten. Bei Jauch, aber auch in Deutschland sucht den Superstar (RTL) lernt man, bescheiden zu sein und sich bei schwachen Leistungen nicht zu sehr selbst zu loben, das macht einen unbeliebt und führt schnell ins Aus. Bei den zahlreichen Ratespielen lernt man auch, dass Bildung einen Wert hat. Sendungen wie Das perfekte Dinner (VOX) geben nicht nur gute Kochtipps, sondern vermitteln Regeln der Konversation, des Benehmens und der sozialen Interaktion in einer Gruppe mit fremden Menschen. Bares für Rares (ZDF) zeigt, wie man mit Antiquitäten handelt und ihren Wert bestimmt. Der Zuschauer lernt immer etwas, aber Unterhaltung wirkt nicht belehrend, sie ist leicht zu konsumieren. Der Lernerfolg findet automatisch statt und erreicht die Gefühle. An Dieter Bohlen, fast 20 Jahre lang die Leitfigur bei Deutschland sucht den Superstar, konnte man in der Auseinandersetzung über seinen Umgang mit schwachen Kandidaten die Frage diskutieren, wo die Anstandsgrenzen verletzt wurden. Lernen verläuft nicht linear, es werden nicht nur Verhaltensmuster übernommen, es gibt auch ein Abgrenzungslernen:

So möchte ich auf keinen Fall sein und so möchte ich mich nicht verhalten.“


Medienvielfalt und Toleranz

Mediale Berichterstattung trägt zusammen mit Unterhaltungssendungen erheblich zum gesellschaftlichen Wertewandel und zur Wertereflexion bei. Vieles spricht dafür, dass die heutige Akzeptanz von sexueller Vielfalt, Gendergerechtigkeit oder die Bekämpfung von Fremdenhass in dieser Geschwindigkeit ohne die Medien nicht möglich gewesen wäre.2 Gerade der Spielfilm als soziales Drama schafft es, Figuren, die zu einer diskriminierten Gruppe gehören, so in die Dramaturgie einzuführen, dass selbst Zuschauer mit fremdenfeindlichen Grundtendenzen einen Identifikationsprozess erleben. Die emotionale Einfühlung in Charaktere, die eigentlich der eigenen sozialen Erwartung widersprechen, wirkt intensiver als in der Berichterstattung, die in der Regel stärker die Kognition anspricht (vgl. von Gottberg 2015; 2019; Döring 2016). Auch in Formaten wie Gute Zeiten, schlechte Zeiten oder Berlin – Tag & Nacht werden Themen der sozialen Akzeptanz regelmäßig behandelt, auch wenn die Art und Weise der Aufbereitung nicht immer dem Geschmack erwachsener Fernsehkritiker entspricht.
 

Joko & Klaas, ProSieben: Circus HalliGalli / Aushalten: Leise sein



Fazit

2007 wurden zum ersten Mal zwei Grimme-Preise für Unterhaltungsformate vergeben. Da es noch keine Kriterien gab, musste die Jury sie entwickeln, und schon gab es heftigen Streit um die Frage, ob eine Sendung, die einfach nur unterhält, mit einem Grimme-Preis geehrt werden darf: Muss nicht mindestens eine Belehrung oder ein soziales Engagement erkennbar sein? Die Jury konnte sich trotz heftiger Diskussionen nicht einigen, heraus kam ein Kompromiss: Ein Preis ging an Extreme Activity (ProSieben), eine Spielshow mit Jürgen von der Lippe, sehr unterhaltsam, aber völlig sinnfrei, und ein anderer – zum Ausgleich – an die ARD-Serie Türkisch für Anfänger, unterhaltsam, aber immerhin mit dem Bemühen, eine kulturelle Brücke zwischen Nationen und Kulturen zu bauen. Eine Jurorin war darüber derart erbost, dass sie sich anschließend in der Presse über die Entscheidung beschwerte. Wir sehen: Auch Fachleute kommen in Bezug auf die Qualität von Unterhaltung selten zu einem Konsens. Als 2014 Circus HalliGalli (ProSieben), von den Machern Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf selbst als „festlich inszenierter Trash“ eingestuft, einen Grimme-Preis erhielt, zweifelten viele am Verstand und Geschmack der Jury, es hagelte zahlreiche Proteste, deren Formulierungen häufig ebenfalls eher an Trash erinnerten.3

Was gute oder schlechte Unterhaltung ist, lässt sich am ehesten im Diskurs ermitteln, der aber leicht in einen ergebnislosen Streit ausarten kann. Es gibt nicht die richtige Position, deshalb brauchen wir eine möglichst große Vielfalt von Angeboten. Dass bei ARD und ZDF Sendungen wie titel thesen temperamente (ttt) oder aspekte ähnlich wie viele Dokumentationen oft erst im Nachtprogramm ausgestrahlt werden, während das Hauptabendprogramm meistens Unterhaltsames zeigt, oder dass vor allem im ZDF an mehreren Tagen der Woche zwei Kriminalfilme hintereinander laufen, mag man kritisieren, ist aber durch die Bedeutung der Mediatheken immer weniger relevant. Da hier wahrscheinlich die Zukunft des Medienkonsums liegt, ist es richtig, die Auffindbarkeit von gesellschaftsrelevanten Inhalten zu verbessern und immer mehr Nischenproduktionen verfügbar zu machen, die nur für die Mediatheken hergestellt werden. Hier ist in der Vergangenheit einiges verschlafen worden, aber sowohl die öffentlich-rechtlichen (vgl. Soyez 2021) als auch die privaten Sender haben dies erkannt und holen Versäumtes nach: Die Konkurrenz von Netflix oder Amazon Prime Video belebt erheblich das Geschäft.
 

Anmerkungen:

1) Vgl. Grimme-Institut: Wie soll das Fernsehen der Zukunft aussehen? Hamburg 2021. Abrufbar unter: https://www.grimme-preis.de. Vgl. auch Zylka, J.: Zurück in die Zukunft. In: tv diskurs, Ausgabe 97, 3/2021, S. 70 – 73

2) Vgl. z.B. Spielfilme über Homosexuelle. Abrufbar unter:  https://www.queer.de

3) Der Autor dieses Beitrags war damals Mitglied der Jury „Unterhaltung“.


Literatur:

ARD: ARD-Zukunftsdialog. Stuttgart/Köln 2021. Abrufbar unter: https://www.ard.de

Döring, N.: Jugendsexualität heute: Zwischen Offline- und Online-Welten. In: M. Syring/T. Bohl/R. Treptow (Hrsg.): YOLO – Jugendliche und ihre Lebenswelten verstehen. Zugänge für die pädagogische Praxis. Weinheim/Basel 2016, S. 220 – 237

Filipović, A.: Gemeinwohl als medienethischer Begriff. Über öffentliche Kommunikation und gesellschaftliche Mitverantwortung. In: Communicatio Socialis, 1/2017/50, S. 9 – 19. Abrufbar unter: https://www.nomos-elibrary.de

Gebauer, G.: Fußball. Attraktion für die gesamte Gesellschaft. Interview mit Gunter Gebauer. In: tv diskurs, Ausgabe 86, 4/2018, S. 26 – 31. Abrufbar unter: https://tvdiskurs.de

Gottberg, J. von: Ethik im Wandel. Sexuelle Toleranz und die Rolle der Medien. In: tv diskurs, Ausgabe 72, 2/2015, S. 46 – 51. Abrufbar unter: https://tvdiskurs.de

Gottberg, J. von: Plurale Medien leisten ein Plädoyer für sexuelle Selbstbestimmung. Öffentliche Diskurse und die Entwicklung von Ethik. In: H.-J. Voß/M. Katzer (Hrsg.): Geschlechtliche und sexuelle Selbstbestimmung durch Kunst und Medien. Neue Zugänge zur sexuellen Bildung. Gießen 2019, S. 245 – 262

Gottberg, J. von/Lamster, F.: Fußball als parasoziales Übungsfeld. In: tv diskurs, Ausgabe 86, 4/2018, S. 68 – 71. Abrufbar unter: https://tvdiskurs.de

Grimm, J.: Unterhaltung ist Information. Edutainment-Programme im Spannungsfeld von Belehrung und Vergnügen. Vortrag. In: medien impuls, Mai 2014. Abrufbar unter: https://www.youtube.com

Huizinga, J.: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Hamburg 201122

Imming, S.: Florian Silbereisen: Schlechteste Schlagerchampions-Quote, seit es das Format gibt. In: Schlagerprofis.de, 28.02.2021. Abrufbar unter: https://schlagerprofis.de

Jakobs, G./Vehlewald, H. J.: Aufstand gegen Pay-TV. In: Der Spiegel, 43/1997, S. 11

ots/Presseportal: Neuer Höchstwert: 11,78 Millionen sehen täglich tagesschau um 20 Uhr – tagesschau legt im Digitalen zu und ist auch bei Jüngeren die Nr. 1. In: Presseportal, 05.01.2021. Abrufbar unter: https://www.presseportal.de

Pawlik, V.: Umfrage in Deutschland zum Interesse an der Sportart Fußball bis 2020. In: Statista, 26.08.2020. Abrufbar unter: https://de.statista.com

Rosenzweig, M. E./Enzminger, A.: Erziehung undercover. Unterhaltungssendungen mit Informationswert. Interview mit Maria Emilia Rosenzweig und Andreas Enzminger. In: tv diskurs, Ausgabe 67, 1/2014, S. 74 – 81. Abrufbar unter: https://tvdiskurs.de

Soyez, A.: Wie sieht die Mediathek der Zukunft aus, Herr Schlatterbeck?. In: Vis à vis, Inforadio, 02.06.2021. ­Abrufbar unter: https://www.inforadio.de

Weber, D.: Quotencheck: „Wetten, dass..?“. In: Quotenmeter, 14.12.2014. Abrufbar unter: https://www.quotenmeter.de

Weidenbach, B.: Marktanteil von 3sat bis 2020. In: Statista, 28.01.2021a. Abrufbar unter: https://de.statista.com

Weidenbach, B.: Zuschauermarktanteil von arte in Deutschland in den Jahren 2008 bis 2020. In: Statista, 28.01.2021b. Abrufbar unter: https://de.statista.com

Weinhold, P.: Social Media: Wie die Tagesschau-Redaktion Instagram einsetzt. Interview mit Patrick Weinhold. In: Buchreport, 17.09.2020. Abrufbar unter: https://www.buchreport.de

Wilhelm, U.: Grundversorgung heißt nicht Mindestversorgung. Gastbeitrag. In: Der Tagesspiegel, 05.08.2018. Zitiert nach: Medienkorrespondenz, 06.08.2018. Abrufbar unter: https://www.medienkorrespondenz.de

Vitouch, P.: Gewaltfilme als Angsttraining. Kontrollierbare Angstreize simulieren den Umgang mit realen Ängsten. Interview mit Peter Vitouch. In: tv diskurs, Ausgabe 2, 2/1997, S. 40 – 49

Vitouch, P.: Fernsehen und Angstbewältigung. Zur Typologie des Zuschauerverhaltens. Wiesbaden 20073

Zylka, J.: Zurück in die Zukunft. In: tv diskurs, Ausgabe 97, 3/2021, S. 70 – 73