Sie dürfen das

Jenni Zylka

Jenni Zylka ist freie Autorin, Moderatorin, Filmkuratorin, Journalismusdozentin und Geheimagentin. Sie arbeitet für Radio, Print- und Onlinemedien, u.a. „Spiegel Online“, „taz“, „Tagesspiegel“, „Rolling Stone“, WDR, RBB, Deutschlandradio, Berlinale, Filmfest Emden, Filmfest Dresden und Akademie für Mode und Design.

Sexualisierung und Sexismus gehören zum Standardrepertoire von Musikclips.
Musikerinnen eignen sich diesen männlichen Blick an und präsentieren die Stilisierung zum Sexobjekt als Selbstermächtigung.

Printausgabe tv diskurs: 25. Jg., 4/2021 (Ausgabe 98), S. 6-9

Vollständiger Beitrag als:

 

„Put this pussy right in yo’ face / Swipe your nose like a credit card / Hop on top, I want a ride / I do a kegel while it’s inside“. Ein „Kegel“ ist eine Beckenbodenübung, bei der die Beckenmuskulatur rhythmisch zusammengezogen wird. Und die New Yorker Rapkünstlerin Cardi B ließ letztes Jahr in den gemeinsam mit Kollegin Megan Thee Stallion formulierten elf expliziten Strophen ihres Hits WAP an feuchter Beckenboden-Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Für ihre WAP („wet ass pussy“) brauche man einen Eimer und einen Wischmopp; man könne quasi in ihr „tauchen“, während man seinen „big Mack truck“ in der „little garage“ parke.
 

Cardi B: WAP feat. Megan Thee Stallion



Keine Männer

Das dazugehörige von Colin Tilley inszenierte Video illustrierte Cardis und Megans Ansinnen adäquat: Die hochherrschaftliche Villa, in der Cardi (wahrscheinlich) wohnt, wird flankiert von einem Brunnen, geschmückt durch steinerne Frauenskulpturen mit wasserspeienden Brustwarzen. Aus dem Tor schwappt eine Welle, sie rinnt die Treppenstufen hinunter (und stammt demnach aus den „WAPs“ der Hausbewohnerinnen). Diese stolzieren derweil in Bodys mit Schleppe, Netzstrumpfhosen und High Heels rappend durch das humid-surreale Sex-Haus und entdecken in den Zimmern ein im wahrsten Wortsinn geiles Szenarium nach dem anderen: Man rekelt sich in Unterwäsche auf dem Boden, umringt vom Phallussymbol Nummer eins, den Schlangen („Not a garden snake, I need a king cobra“, rappt Cardi); hinter manchen Türen warten fauchende und schnurrende, zuweilen kopulierende Großkatzen, hinter anderen Tänzerinnen in rotem Latex oder Animal-Print-Korsett; einige Strophen rappen Cardi und Megan beim Damenspagat auf zwei Boudoir-Hockern; Brüste werden notdürftig (und für die US-amerikanische Zensur) mit kleinen Nippelpflastern bedeckt; und getwerkt wird ohnehin, was das Zeug hält – wobei das Zeug, das versteht sich von selbst, aus knappsten Fantasiedessous von Thierry Mugler besteht, die einzig das Kernthema des Songs, die „WAP“ selbst, gerade so verhüllen. Männer sind im Clip nicht zu sehen. Das einzig männlich Konnotierte sind einige von Cardis und Megans Haustier-Raubkatzen: Pussys galore.
 

Jugendgefährdende Ausdrücke

Als Cardi und Megan WAP im März 2021 bei den 63. Grammy Awards performten, wurde jedes „Pussy“ sorgsam herausgepiept. Auf YouTube ist der Originalsong in Verbindung mit dem Video bereits seit letztem Jahr nur noch in einer zensierten Version zu hören: Es ist nicht mehr die feucht-erregte Vulva, über die so anschaulich gesungen wird, sondern Megan und Cardi fühlen sich um des Jugendschutzes willen „wet and gushy“, nass-forsch. Der Text wurde in dieser „sauberen“ Variante des Hits auch um sämtliche Blowjob-Referenzen bereinigt. Anstatt „I wanna gulp / I wanna gag / I wanna choke / I want you to touch that lil’ dangly thing that swing in the back of my throat” wimmeln Cardis Zeilen an der Stelle vor Piepsern und Stöhngeräuschen.
 

Weibliche Selbstermächtigung

In Deutschland und Europa, wo die Sicht auf angeblich jugendgefährdende Ausdrücke traditionell eine andere ist und die englische Sprache als fremder, eventuell unverständlicher Zungenschlag zudem entspannter beurteilt wird, entbrannte die Diskussion um WAP vor allem in Bezug auf die Bilder: Vom „Tagesspiegel“ über „SZ“, „Die Zeit“ und „fluter“, die Publikation der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), wurde das Video beachtet. Die Frage, die sich um das Video rankte, lautete: Sind die Bilder der dominant gelesenen, „versauten“ Frauen ein Zeichen für weibliche Selbstermächtigung, für Body und Sex Positivity? Oder für eine Sexualisierung des Mainstreams, mit der falsche Signale an junge Mädchen gegeben und gleichzeitig stereotype, heteronormative, männliche Sexfantasien reproduziert werden?

Für die Hamburger Rapperin Shirin David, eigentlich Barbara Schirin Davidavičius, ist die Antwort klar: Frauen dürfen das – dementsprechend gestaltet und durch WAP beeinflusst sind Video und Text von Davids im Mai 2021 erschienener Single Ich darf das. Zu einem reduzierten Beat-Gerüst rappt die 26-Jährige in dem Clip über „Fame“ und Feminismus und streut zur Hook deutliches Self-Empowerment in den Text: „Kein Mann in dieser Welt macht dich zum Star, Schatz“, rappt sie, während sie inmitten einer – wiederum – reinen Frauengruppe in hautenger Kleidung Bootys aller Größen schüttelt, Beine spreizt, Dekolletés zeigt und sich die Hinterbacken zum Rhythmus mit Farbe beklecksen lässt.
 

Shirin David: Ich darf das



Bildlich weckt das, je nach Zuschauer:in und Bedarf, alle möglichen Assoziationen zwischen lustiger Freundinnen-Pyjamaparty und Sexfantasie eines notgeilen Anstreichers, auf der verbalen Ebene ist Davids Botschaft jedoch so deutlich, dass keine Ambivalenzen übrig bleiben: „Fuck shaming“, fordert sie das Publikum auf und: „Spiel mit der Figur / so wie Beth Harmon“ – eine Referenz an die Netflix-Serie Das Damengambit, in der das weibliche Schachgenie Beth Harmon in den konservativ-frauenfeindlichen 60ern reihenweise männliche Konkurrenten schachmatt setzt. Und zwar „mit der Figur“ – wenn auch eher mit der auf dem Spielbrett, nicht mit dem eigenen Hintern.
 

Körperpolitische Botschaft

Zur Selbstermächtigungschallenge von David und Cardi B kann man im weitesten Sinne auch Lizzo zählen, die 33‑jährige US‑amerikanische Rapperin und Querflötistin, deren „Body Positivity“ noch eindrücklicher überzeugt: Lizzo ist – anders als die genannten Kolleginnen – nach subjektiven westlichen Schönheitskriterien übergewichtig, müsste also eigentlich von vornherein aus dem Kanon der (attraktiven) Popstars ausscheiden. Stattdessen illustrierte Lizzo das Plattencover zu ihrem dritten – bislang erfolgreichsten und mehrfach preisgekrönten – Hitalbum Cuz I love you 2019 mit einem Nacktfoto, twerkt live beim Flötespielen und lässt sich im Video zu Rumors, das im August dieses Jahres mit der gleichnamigen Single herauskam, gleich von fünf voluminösen, schwarzen, in Gold gekleideten Tänzerinnen umgeben. Getwerkt wird in jenem Clip u. a. auf der Spitze von römischen Säulen in ionischer Ordnung, und in einem Gastauftritt der notorischen Cardi B rappt diese ihren Part zunächst von einer Art Thron herunter, trägt dabei ein Gipsbikini-Oberteil über einem echten Babybauch, die riesigen Ohrringe sind fast so groß wie ihre Brüste. Regie führte die junge ukrainische Regisseurin Tanu Muino.
 

 

Lizzo: Rumors feat. Cardi B



Die Diskussion bei Lizzo wird allerdings – und das liegt auch an den Texten – eher im Bereich der allgemeinen Selbstermächtigung als zu Sexualisierung geführt; jedwedes „Body Shaming“, das auch bei David erwähnt wird, ist für Lizzo ohnehin längst passé. Bei ihr stellt – aus Gründen des „Lookismus“, also der diskriminierenden Annahme, nur bestimmte Körperformen und ‑figuren seien attraktiv für das andere Geschlecht – niemand infrage, dass sie sich ausschließlich aus Jux, Tollerei und künstlerischem Ausdruck und einzig für sich selbst (und ihre „Sisters“) chic oder aufreizend anzieht. Wobei „aufreizend“ ein Begriff aus männlicher Sicht ist: Es waren früher ausschließlich Heteromänner, die „aufgereizt“ werden sollten.


Assimilation des männlichen Blicks

Mit der körperpolitischen Botschaft einher geht bei all diesen Künstlerinnen jedenfalls die Assimilation dieses sogenannten männlichen Blicks: Selbstermächtigung bedeutet, sich den herausfordernden Normen dadurch zu entziehen, dass man sie für sich selbst interpretiert. Shirin Davids im Song formulierte Aussage, dass jeder Hintern twerken kann, widerlegt beispielsweise die Ansicht, nur besonders runde, „wohlgestaltete“ Hintern seien dazu in der Lage – aber hinterfragt den Sinn des Twerkens nicht.

Muss sie auch nicht: Zur Selbstermächtigung darf gehören, gern und aus eigener Lust am Twerken zu twerken. Zu akzeptieren, dass einige viele durch den männlichen Blick, die männliche Lust geprägte Bilder und Symbole tatsächlich eine eigene, auf weibliche Nutznießerinnen gerichtete Kraft entwickelt haben könnten oder diese sogar von Anfang an besaßen, ist ein relativ neues, bislang stärker im Wort als im Bild vorhandenes Konzept.
 

Megan Thee Stallion: Savage



Bei Lizzo äußert sich dieser Gedanke u. a. in der Aneignung klassischer, im „alten“ Feminismus als Abwertung empfundener Symboliken: „I love hoes on poles, yeah, I am body goals, yeah“, singt sie in Rumors und bringt damit auf humorvolle, hintergründige und coole Weise gleich zwei einst unmöglich scheinende Statements zusammen: „Ich liebe Huren, die Poledance betreiben, ich sehe so aus, wie ich aussehen will“ – „body goals“ ist ein Begriff aus der Fitness-Influencer-Szene, der üblicherweise von den dort mehrheitlich schlanken, muskulösen Frauen in Bezug auf beispielsweise noch stärker auszuarbeitende Muskelgruppen benutzt wird oder im Hinblick darauf, noch ein letztes Kilo abzunehmen, damit das „Körperziel“ erreicht wird.

Dass Lizzo wie viele Rapperinnen vor ihr das Wort „hoe“ („Hure“) zudem durch die sogenannte „Dysphemismus-Tretmühle“, ein Begriff aus der Sprachwissenschaft, wie selbstverständlich aufwertet, spiegelt also die bildliche Entwicklung auf der verbalen Ebene: Während der Begriff der „hoe“, eigentlich „whore“ bzw. „Hure“ (im Deutschen dokumentiert das Wort allein bereits eine Entwicklung vom Schimpfwort zur Eigenbezeichnung), jahrzehntelang von männlichen Rappern in Bezug auf Frauen pejorativ benutzt wurde, drehen Lizzo und ihre Schwestern im Geiste den Spieß um und bezeichnen sich selbst so.

Ähnliches passiert seit Jahren mit dem Begriff „bitch“, Megan Thee Stallions im letzten Jahr veröffentlichter Megahit Savage beginnt mit den Zeilen: „I’m that bitch / Been that bitch, still that bitch / Will forever be that bitch“ – stolzer kann man wohl kaum auf die eigene „Bitchigkeit“ sein. Etwas weniger subtil, weniger humorvoll und eher wie eine Art „Retourkutsche“ rappte die deutsche Künstlerin Haiyti bereits 2018 im Song Bitches gleich nach dem Refrain „Keine Zeit für Euch Bitches, Bitches“: „Ghettosilberketten funkeln bei Nacht, ich dreh’ ein paar Runden / Q8 pumpt Bass, Fensterscheiben sind unten / Junge, du hast hier nichts zu suchen / Halt deinen Mund, sonst fliegen Funken / Wir rasen durch die Tunnel / Machen uns frisch, jede halbe Stunde / Nutten gucken und wollen viel Bares“.
 

Haiyti: Bitches



Stärker noch als Selbstermächtigung oder Solidarität spricht aus den Worten der 28‑jährigen Hamburgerin der Stolz und der Trotz des Underdogs (bzw. der Underbitch), und dem Schicksal der „Nutten“ scheint sie sich ebenfalls nicht aus Kameradinnenschaft nähern zu wollen: Haiyti zieht ihr Selbstbewusstsein aus der Idee, genau das zu machen, was früher nur Männer gemacht haben.

Immerhin kann man ihr Bitches als Antwort auf den Song Keine Zeit für Bitches des Rappers Money Boy lesen – der 40‑jährige Wiener Cloudrapper nutzt den Begriff in seinen Texten zumeist, um im gängigen, merkwürdigen Machodualismus verächtlich über Frauen zu reden, mit denen man eigentlich gern ins Bett gehen würde. „Hitta wollen wie ich sein, Bitches wollen den Dick rein“, reimt er in Monte Carlo. Da ist auf der Gendergerechtigkeits-Bewusstseins-Skala also noch tüchtig Luft nach oben. Auch wenn „Slutwalks“ oder „Schlampenmärsche“ seit über zehn Jahren genau an dieser Front arbeiten.
 

Money Boy: Monte Carlo



Sexualisierung ohne Abwertung

Dass Musikerinnen wie Lizzo oder Cardi B der textlichen Entwicklung Bilder folgen lassen und sich nach den Worten auch der Ästhetik ermächtigen, ist nur folgerichtig. Was aber, wenn jugendliche Zuschauer: innen und Zuhörer:innen die positive – von sich jahrzehntelang entwickelnden Moden, Diskursen und Kodizes geprägte – Botschaft nicht durchschauen? Wenn sie die politischen, feministischen, selbstermächtigenden Elemente, die Ebenen, die etwa in einem Video wie WAP aufgemacht werden, nicht erkennen, sondern einfach nur zwei Frauen mit prominenten Hintern sehen, die sich in knappe Kleidung und hohe Schuhe werfen und lasziv an langen Fingernägeln saugen?

Vermutlich passiert erst einmal nichts. Denn man kann davon ausgehen, dass jüngere Konsument:innen etwa im Alter von Tagesprogramm-Zuschauer:innen zunächst vor allem wahrnehmen, dass Lizzo, Shirin, Cardi oder auch Beyoncé erwachsene Frauen mit einem erwachsenen Körper, einem erwachsenen vestimentären Style und einer erwachsenen Sexualität sind. Wenn sie im Teenageralter die Texte verstehen und die Codes entziffern, können sie entdecken, welche gemeinsame, wünschenswerte Grundlage die deutlichen Botschaften haben, die in diesen Songs und Bildelementen stecken: Es gibt keinen Grund, auf angebliche (männlich konnotierte) Assoziationen „Rücksicht“ zu nehmen, sich zu entkleiden oder zu verhüllen, weil Männer es fordern. Demzufolge darf jede erwachsene Frau jeden wie auch immer geformten Körper so anziehen oder so unbekleidet lassen, wie sie möchte, darf mit ihm machen, was sie möchte, und darf ihre sexuelle Lust so formulieren, wie sie möchte – solange sie niemanden dabei unterdrückt. Letzteres ist übrigens der größte Unterschied zum Prinzip des männlichen Mainstreamraps mit seinem „Dissen“ von Weiblichkeit: Die selbstermächtigte weibliche Stimme ist nicht nur fürsorglich und wertschätzend gegenüber sich selbst. Sondern liebt und genießt auch ihre (männlichen) Partner. Das nennt man dann wohl eine Win-win-Situation.