Zurück in die Zukunft

Jenni Zylka

Jenni Zylka ist freie Autorin, Moderatorin und Filmkuratorin.

Tja: 2020 lag das Internet in der Freizeit-Monitor-Befragung der Stiftung für Zukunftsfragen das erste Mal seit 30 Jahren vor dem Fernsehen. Und zwar deutlich und in allen Altersstufen. 96 % der Befragten nutzen regelmäßig das Internet, nur noch 86 % die lineare Glotze. Klar ist, dass sich der Trend in diesem von Lockdowns und Kulturentzug geprägten Jahr fortsetzen wird.

Printausgabe tv diskurs: 25. Jg., 3/2021 (Ausgabe 97), S. 70-73

Vollständiger Beitrag als:

 

Um herauszufinden, inwiefern und ob der Zug für das Fernsehen abgefahren ist, hat das Grimme-Institut in Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) und dem Düsseldorfer Institut für Internet und Demokratie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (DIID) eine Umfrage durchgeführt. Im November 2020 wurde eine sogenannte „Partizipationsplattform“ namens #meinfernsehen2021 online gestellt. Dort konnten Zuschauerinnen und Zuschauer ihre Ideen und Anregungen, vor allem aber auch ihren Brass auf das schöne alte Massenmedium loswerden. Bei einem eintägigen Kongress in Düsseldorf wurden die durch die Plattform gewonnenen Erkenntnisse öffentlich gemacht und mit Expert:innen aus der Branche diskutiert. Dazu kamen Interviews mit Medienmacher:innen, die ich (als Medienjournalistin und langjähriges Mitglied der Grimme-Jury) vorher im Auftrag des Instituts führen konnte.

Bei diesen Zoom-Gesprächen habe ich den Begriff „Fernsehen“ großzügig gefasst: Ich habe mich nicht nur auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ÖRR) konzentriert, weil die meisten Konsument:innen dies auch nicht tun. Es ist ihnen letztlich egal, wo ein Inhalt zu bekommen ist, die viel zitierte „Marke“ spielt keine allzu große Rolle.
 

Trailer The Marvelous Mrs. Maisel



Und selbst die ÖRR-Chefetagen gaben bei der Frage nach faszinierenden kürzlichen Fernseherlebnissen das Senderfremdeln zu: Zwar nannte der WDR-Programmdirektor Jörg Schönenborn zunächst die hauseigene Serienproduktion Parlament und einen ARD-Krimi, hatte sich aber auch mit Amazon Prime Video (The Marvelous Mrs. Maisel) und sogar beim Konkurrenten ZDF (Eichwald, MdB) vergnügt und Unorthodox auf Netflix gebingewatcht. In Bezug auf das subjektiv zwingende Bingen internationaler Serien und manch dagegen zuweilen schleppend süchtig machender deutscher Produktion verwies Schönenborn auf die Globalisierungsgefahr, die in dem Kopieren erfolgreicher Narrative schlummere:

Es ist ein großer Schatz in unserer Kultur, dass sich diese amerikanische Erzählweise bei uns eben nicht als prägend durchgesetzt hat. In vielen klassischen Fernsehmärkten hat über Jahrzehnte eine Globalisierung der Filmkultur stattgefunden. Bei uns hat es seit den 80ern und 90ern eher die Gegenbewegung gegeben.“

Dass das Publikum aber dennoch eher jene temporeiche „amerikanische Erzählweise“ goutiert, versucht Schönenborn zu differenzieren: „Für ein gebildetes, städtisches, kulturell offenes Milieu, das die deutsche Öffentlichkeit prägt, aber die Minderheit der Bevölkerung ausmacht, ist das ein attraktives Angebot.“ Die Mehrheit, so der Umkehrschluss, finde die flott erzählten Geschichten demnach zu anstrengend.

Dagegen spricht, dass der Streamingdienst Netflix – im Gegensatz zur Praxis des nationalen linea­ren Fernsehens – seine Zielgruppen nie nach Alter und Region definiert, sondern immer davon ausgeht, an unterschiedlichen Orten der Welt ein Publikum finden zu können. Und hoch­anspruchsvolle, aber strukturell an die geläufigsten Narrative von allen (Krimis!) anknüpfende erfolgreiche Produktionen wie die BBC-Serie Sherlock schaffen es eh, sämtliche Zuschauer­gruppen zu vereinen.
 

Trailer Sherlock



Nicht nur bei Streamingportalen ist die Konkurrenz hellwach: „Die große Preisfrage ist, wie wir unsere Inhalte unabhängig sowie auf Augenhöhe mit YouTube und anderen Nutzungszeitfressern auch in Zukunft verbreiten können. Denn unsere ureigenen linearen Wege werden nach und nach immer weniger genutzt“, stellt Schönenborn fest und konkretisiert in Sachen Zukunftsfähigkeit: „Junge Menschen lernen von Kind an, wie man Videos herstellt. Und sie tun es selbstverständlich vollkommen subjektiv und ganz persönlich. […] Und zugleich wollen sie viele verschiedene Per­spektiven nebeneinander sehen. Keiner soll ihnen aber vorschreiben, welche sie sich zu eigen machen. Multiperspektivität ist aber eine wichtige journalistische Leitlinie.“ Zum Thema „Diversität“ habe man inzwischen dazugelernt, erklärt er. Feste Kriterienkataloge, die die Repräsentanz sämtlicher Gesellschaftsgruppen stärken sollen, lehnt er jedoch ab:

Kunst und Journalismus regulieren zu wollen, ist ja ein Widerspruch in sich.“

Heike Hempel ist die Hauptabteilungsleiterin für Serien und Fernsehfilme im ZDF. Sie nannte als Fernseherlebnisse der letzten Zeit zunächst ebenfalls Sendereigenes: die Dramaserie Fritzie – Der Himmel muss warten und die süße, artige Culture-Clash-Komödie Matze, Kebab und Sauerkraut. Hempel thematisiert die unterschiedlichen Erzählstile. Bei der Beobachtung der Streamingkonkurrenten habe sie interessant gefunden, „dass man nicht unbedingt authentisch und glaubwürdig erzählen muss, wenn man Resonanz will.“ Die Frage ist vielleicht nur, wie viel man seinem Publikum zutraut. Zur Diversität weist sie auf ein „ZDF-Regisseurinnen­förderungs­programm“ hin, „wir versuchen, den Weg zu einer gleichberechtigten Teilhabe am Markt zu ebnen und zu unterstützen. Diversität gehört in unseren Alltag des Erzählens“. Sie spricht aber auch davon, das Bewusstsein schulen zu müssen. In Bezug auf Regeln oder Checklisten erklärt sie, dass man „Monitoring betreibe“:

Wir, die TV machen, formen Realitäten und Sichtweisen und Bilder. Wir haben eine Verantwortung!“

Man wolle Diversität keinesfalls nur zu einem Image machen oder kommerzialisieren. Auf der anderen Seite weist sie darauf hin, dass man beim ZDF nicht für den internationalen Markt produzieren muss, sondern deutsche Lebenswirklichkeit abbilden kann. „Wenn wir das schaffen“, glaubt Hempel, „können wir auch junge Zuschauer erreichen“.
 

Trailer Matze, Kebab, Sauerkraut



Vielleicht sogar den (nicht mehr ganz blutjungen) Moderator und Medienkritiker Philipp Walulis? Auf die Frage nach beeindruckenden Bewegtbildern der letzten Zeit nennt er Gangs of London, aber auch Babylon Berlin. Das letzte lineare Fernseherlebnis fand allerdings bei seinen Eltern statt: Tatorte. Er konstatiert dem ÖRR eine „beeindruckende Bandbreite“ und sieht den „Kampf um die Aufmerksamkeit“. Er selbst nehme Vorschläge nur über andere Medien oder Freund:innen wahr, eine „Programmzeitung wird kaum durchgeblättert.“ Denn: „Lineares Fernsehen schaue ich überhaupt nicht mehr, ich hab gar keinen Fernsehanschluss mehr.“ (Mit einem Guilty Pleasure: In der Mittagspause würde man Lenßen übernimmt schauen, aber nur, weil sonst „die Essgeräusche unangenehm sind“. Und das läuft ja noch nicht mal beim ÖRR …) Eine diversitätsfreundliche Quote schränke ein, findet der Moderator, „ich würde eher auf Freiwilligkeit setzen.“ Man müsse die Entscheider „leicht hinmassieren“ zu einer bunteren deutschen Welt, die Macher sensibilisieren. Damit würden – irgendwann in der Zukunft – auch die Marktanteile besser.
 

Trailer Babylon Berlin



Der Journalist und Filmemacher Hubertus Koch sieht ebenfalls einen großen Innovationsbedarf im Fernsehen, vor allem „bei Debatten. Die jetzigen Talkformate sind nach Schema F“, sagt er, es sei „erwartbar, was behandelt, welche Gäste eingeladen werden, oft endet es nur in einer ergebnislosen Ankeiferei“. Vor allem die Aufbereitung von Sujets wie Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sieht er problematisch. Und Diversität müsse bereits viel früher mitgedacht werden:

Der Zugang in die Redaktionen müsste vereinfacht werden, schon in der Auswahl von Volontären, Redakteuren oder Produktionsfirmen kann man mehr Diversität schaffen, wenn man weniger mit seinesgleichen arbeitet.“

Einen Diskurs wie beispielsweise Black Lives Matter könne man nicht abbilden, wenn „in den Redaktionen nur Weiße sitzen, die keine emotionale Verknüpfung zum Thema haben.“ Zudem könnte es nach seinem Geschmack auch bei der Formatentwicklung „sehr viel unbürokratischer sein. Es ist unglaublich, wie viele Gremien tagen, wie viele Redaktionen auf ein Konzept gucken, wie lange Entscheidungsprozesse dauern“, sagt Koch. Für das gemeinsame Erleben von Bewegtbild macht er allerdings ein Comeback aus: „Musiker, z.B. beim Deutsch-Rap, richten Premieren ihrer Videos mit Erfolg auf YouTube ein, dann kann man das zum ersten Mal zusammen sehen, das macht den Leuten Spaß.“

Auch für die Moderatorin und Produzentin Esra Karakaya bieten die ÖRR-Angebote kaum Brauchbares:

Ich höre kein Radio, ich habe keinen Fernseher“, sagt sie, „ich habe nicht das Bedürfnis, öffentlich-rechtliche Inhalte zu konsumieren, das reizt mich nicht. Denn ich kann mich damit nicht identifizieren.“

Eine der wenigen Ausnahmen ist für sie die Comedyserie Ethno. Karakaya fordert für die Zukunft „eine Repräsentation von Realitäten, die ich kenne. Man muss tiefer gehen, nicht einfach cringemäßig alles abhandeln.“ Ganz klar positioniert sie sich dazu, das Thema „Diversität“ nicht dem Goodwill zu überlassen: „Zu sagen, man solle diverser werden, reicht nicht. Mit den Communitys selber zu arbeiten, ist wichtig. Und es muss zunächst Regeln geben, einen Kriterienkatalog. Dazu muss es Konsequenzen haben, wenn die Kriterien nicht erreicht werden.“ Die Berlinerin wünscht sich für die Zukunft einen „generellen Kulturwandel. Im besten Fall setzen die ÖRR einen Trend – und die Privaten ziehen mit!“
 

WDR Comedy & Satire: ETHNO Folge 1 | RebellComedy



Der letzte Trend der Öffentlich-Rechtlichen ist allerdings schon ein Weilchen her. Der Produzent, Journalist und Kommentator Friedrich Küppersbusch ist auch als Konsument wählerisch: „Ich bin nicht so ein Fiction-Hase, aber meine Tochter hat mich zum Bingen gebracht: Die Brücke, Vikings.“ Mit seiner Produktionsfirma probono produziert er seit Jahren preisgekrönte Talkshows und Satireformate. Den Bewegtbildmarkt in Deutschland bezeichnet er als „hochkompetitiv“. Er glaubt, dass Streamingdienste über die Dokumentationen in andere Bereiche der Gesellschaft gelangen und damit Formate wie Nachrichten oder Diskussionen „repertoirefähig“ werden könnten.

Die viel gerühmten und vermissten öffentlich-rechtlichen „Lagerfeuer“ verortet er klar „in sozialen Netzwerken, es gibt noch Leuchttürme wie Tatorte, Fußball-Länderspiele, vielleicht mal ein aufregender Wahlabend, aber das wird nicht die Überlebensstrategie für das ÖRR sein.“ Küppersbusch sieht die komplizierte Annäherung von linearen Sendern zu den (nicht mehr) neuen Medien eher skeptisch:

Menschen, die lineares Fernsehen gucken, möchten nicht dran erinnert werden, dass sie eigentlich alt sind und ins Internet gehören. Und Menschen, die im Internet sind, werden das nie goutieren, dieses Bastardisieren von Fernsehsendungen.“

Fernsehen sei eben retro, sagt Küppersbusch, und nehme „auch das 41. Quiz zu den 40 Quizsendungen dazu.“ Er bilanziert: „Die Fernsehsender suchen ihre Zukunft in ihrer Vergangenheit!“ In Sachen Diversität begrüßt er alle Aktionen, befürchtet aber, „dass da wunderbare Bürgerkriege angezettelt werden, auch wenn wir nur Millimeter auseinander sind.“
 

Trailer Vikings



Der Kommunikationswissenschaftler und Medienforscher Otfried Jarren glaubt, dass das Fernsehen der Zukunft sich erheblich verändern wird: „Die Vielfalt wird zunehmen, die Linearen haben dabei das Risiko, dass sie verloren gehen, weil es so viele Angebote gibt, die alle ihr Publikum finden.“ Man könne nicht mehr erwarten, alles über einen Kanal abzudecken, denn heutzutage „teilt man Erfahrungen oder Infos, und daraus bilden sich Subgruppen.“ Das sei aber nichts Neues, sagt der Experte, „Gemeinschaften auf Zeit oder auf Dauer gab es immer schon beim Fernsehen, wir sehen jetzt die Unterschiede nur deutlicher.“ Um das Fernsehen und den ÖRR aus der konstatierten Krise zu führen und eine jüngere, fernsehfeindliche Generation zu erreichen, braucht es für ihn Ideen auf einer ganz anderen Ebene: „In die Mediatheken müssen Pakete für Multiplikatoren wie Schule, Unis oder Projekte, man kann Themenabende produzieren, eigene Schwerpunkte und Talkformate entwickeln. Dahinter steht der Netzwerkgedanke.“ Das Problem sind seiner Ansicht nach die Senderstrukturen.

Wenn ich ARD wäre“, sagt Jarren, „würde ich ein Studio mit jungen Leuten füllen und mal schauen. Denn Multiperspektivität ist dringlich.“

Auch er sieht beim Journalismus „die Tendenz zur Zentrierung: Man sitzt im Hauptstadtstudio, aber wer ist draußen? Es braucht Dezentrierung und Diversität.“

Die Ideen und der Wille, das Fernsehen sicher in die Zukunft zu transportieren, scheinen also auf allen Seiten vorhanden zu sein. Dennoch zeigte sich auch bei der Präsentation der Zuschauer:innenbefragung in Düsseldorf und auf den dortigen Panels, dass sich – so hoffnungslos es klingt – die mal mehr, mal weniger tief empfundene Kluft zwischen den Fernsehgenerationen nicht überwinden lässt. Sie lässt sich verkleinern, teilweise mit schmalen Stegen überbrücken. Aber unterm Strich muss sie wohl einfach zuwachsen. Und das Fernsehen der Zukunft damit zu einem ganz neuen, ganz anderen Medium machen.