Die Gewalt der Zivilisation

Kurzdokumentarfilm „Lynching Postcards: 'Token of a Great Day'“ bei Paramount+

Jana Papenbroock

Jana Papenbroock studierte Film an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Neben ihrer freien Prüftätigkeit für die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) arbeitet sie als Dokumentarfilmemacherin.

Programm Lynching Postcards: „Token of a Great Day
 Drama, USA 2021
SenderParamount+, ab 08.02.2022

Online seit 08.02.2023: https://mediendiskurs.online/beitrag/die-gewalt-der-zivilisation-beitrag-1124/

 

 

Die Postkarten, die Lynching Postcards: „Token of a Great Day“ zeigt, sind keine Grußkarten, die als Souvenirs schöner Orte und Momente dienen. Es sind Anzeigen von Tatorten, die zur Tatzeit noch als gesellige Schauplätze für die ganze weiße Familie galten.

Die Urheber der Fotografien sind Mittäter oder Schaulustige, die Lynchmorde an Schwarzen Menschen zwischen 1880 bis 1968 überwiegend in den Südstaaten der USA dokumentieren. Die Lynch-Postkarten werden offiziell 1908 verboten und zirkulieren anschließend in Briefumschlägen verhüllt wie Pornografie als Sammelware weiter. Schon im ersten Umlauf der Karten werden die Bilder der Täter, die Schwarze Körper als versehrte, teils verbrannte, teils zusätzlich zergliederte und entblößte Leichen repräsentieren, von Schwarzen Aktivist:innen appropriiert und umgedeutet. Die Journalistin Ida B. Wells und der Soziologe W.E.B. Du Bois publizieren die originalen Lynch-Postkarten, die Schwarze Menschen ikonografisch zu entmenschlichen beabsichtigen, um die auf ihnen posierende weiße Bevölkerung als entmenschlicht zu markieren und Lynchjustiz als Praxis der Barbarei und des Terrors anzuzeigen.
 

Bild: ©2022 Paramount Global. All Rights Reserved.


 

Während die Fotografien ursprünglich produziert werden, um weiße Überlegenheit darzustellen, dienen sie kurz darauf als Evidenzen und juristische Beweise von rassistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die allerdings nicht geahndet werden. Heute sind die Postkarten Relikte einer mittelalterlich wirkenden Geschichte des Rassismus, die noch dabei ist, kollektiv aufgearbeitet zu werden und bis in die gegenwärtige, strukturelle Gewalt gegen Schwarze Menschen hineinwirkt.

Die Regisseurin und Dokumentarfilmerin Christine Turner blickt nüchtern und sachlich aus einer weiblichen Schwarzen Perspektive auf die Abbildungen der Postkarten. Wenn sie Ausschnitte der Fotografien vergrößert oder in sie hineinzoomt, bedient sie keinen voyeuristischen Blick auf die Leichen, sondern zeigt stattdessen die Gesichter des Mobs in Nahaufnahmen: weiße Kinder, Jugendliche, Männer und Frauen, gewöhnlich aussehende Menschen, die grausamen Verbrechen als „Sehenswürdigkeiten“ zuschauen. Die Zuschauenden wollen mit dem fotografischen Beleg ihrer Anwesenheit bei den Lynchmorden ihre „zivilisierte“ Überlegenheit zeigen, sie kreisen teilweise stolz auf den Karten ihre Gesichter ein. Das rassistische Narrativ der Täter konstruiert die Opfer als „bestialisch“ und „primitiv“, um ihre Verbrechen als Vergeltungsmaßnahmen zu rechtfertigen.

Der dokumentarische Kurzfilm, der von MTV Documentary Films koproduziert und für einen Oscar nominiert wurde, zeigt die historischen Postkarten von ihren Vorder- und beschriebenen Rückseiten in der Machart von Fotofilmen („still image films“). Ein Parallelstrang mit Talking-Head-Interviews mit Schwarzen Historiker:innen, die die Fotografien kontextualisieren, flankiert die Standbilder der Postkarten, die aus dem Off kommentiert werden. Während beim Film üblicherweise 24 oder 25 Bilder pro Sekunde ablaufen, so dass der Eindruck von Bewegung entsteht, arbeitet der Fotofilm bewusst mit der Dauer zwischen statischen Einzelbildern. Der Medienphilosoph Siegfried Zielinski beschreibt diese Dauer zwischen den Bildern als „Zeitraum“. Hierbei geht es nicht um die Illusion von Bewegung oder Fortschritt, sondern einen Reflexionsraum, der als Gestaltungsmittel eröffnet wird. Fotofilme, die mit Essayfilmen und Collagefilmen verwandt sind, ermöglichen durch die Reproduktion originaler Fotografien einen analytischen Zugang zu ihrem Sujet.

Die Konfrontation mit der Brutalität historischer, US-amerikanischer Kulturgeschichte veranschaulicht die unfassbare Gewalt des westlichen Zivilisationsprojekts, aber auch die Eigenschaft von Medien wie Postkarten, Fotografien und Filmen, instabil und umdeutbar zu sein, wenn Unterdrückte sich der Bilder der Herrschenden bemächtigen und ihre Geschichtserzählung richtigstellen.
 


Freigegeben ab …
 

Die Dokumentation zeigt unzählige der historischen Postkarten, die die brutalen, rassistisch motivierten Gewaltverbrechen und die menschenverachtende, zynische Haltung des weißen Mobs zeigen. Die Sendung verurteilt Rassismus, Gewalt sowie das Anfertigen und Verbreiten derartiger Erinnerungsstücke an die Gewalt unmissverständlich. Die Gesamtanlage ist kritisch, einordnend und aufklärerisch, die Tonalität sachlich und ruhig. 16-Jährige sind aufgrund ihrer Entwicklungsreife und Medienerfahrung in der Lage, die Inhalte angemessen einzuordnen und die drastischen Bilder zu verkraften. Mit Blick auf 12-Jährige konnte der FSF-Prüfausschuss eine emotionale Überforderung durch die Fotografien nicht ausschließen, weshalb die Sendung für das Spätabendprogramm, verbunden mit einer Altersfreigabe ab 16 Jahren freigegeben wurde.

Bitte beachten Sie:
Bei den Altersfreigaben handelt es sich nicht um pädagogische Empfehlungen, sondern um die Angabe der Altersstufe, für die ein Programm nach Einschätzung der Prüferinnen und Prüfer keine entwicklungsbeeinträchtigenden Wirkungsrisiken mehr bedeutet.

Weiterlesen:
Sendezeiten und Altersfreigaben

 

Hinweis:
Pay-TV-Anbieter oder Streamingdienste können eine Jugendschutzsperre aktivieren, die von den Zuschauer:innen mit der Eingabe einer Jugendschutz-PIN freigeschaltet werden muss. In dem Fall gelten nicht die üblichen Sendezeitbeschränkungen und Schnittauflagen. Weitere Informationen zu Vorschriften und Anforderungen an digitale Vorsperren als Alternative zur Vergabe von Sendezeitbeschränkungen sind im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (§ 5 Abs. 3 Nr. 1§ 9 Abs. 2 JMStV) sowie in der Jugendschutzsatzung der Landesmedienanstalten (§ 2 bis § 5 JSS) zu finden.

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Jugendschutz bei Streamingdiensten