Love me Tinder

Vor 10 Jahren startete die neue Dating-Generation

Joachim von Gottberg

Prof. Joachim von Gottberg ist Chefredakteur der Fachzeitschrift MEDIENDISKURS.

Das Internet hat die Chancen, Kontakt zu anderen Menschen zu finden, revolutioniert. Datingportale machen es möglich, von überall aus Kontaktwünsche an Gleichgesinnte zu adressieren. Vor zehn Jahren kam Tinder auf den Markt und ist inzwischen Spitzenreiter beim Online-Dating.

Online seit 12.10.2022: https://mediendiskurs.online/beitrag/love-me-tinder-beitrag-1122/

 

 

Den Trend, über Annoncen in Zeitungen jenseits des eigenen Bekanntenkreises den*die Partner*in fürs Leben zu finden, gibt es schon seit 1695: Damals wurde in der englischen Wochenzeitschrift Sammlung für den Fortschritt in Handel, Haus- und Landwirtschaft eine zahlungskräftige Ehefrau gesucht: „Ein Herr um die 30 Jahre alt, von sehr gutem Stand, würde sich gern mit einer Dame verbinden, die ein Vermögen von ungefähr 3.000 Pfund besitzt.“ (Meyer 2022) Über diese Art der klassischen Heiratsannonce hat man aber selten offen gesprochen, sie galt lange als der letzte Versuch, eine*n Partner*in zu finden, wenn dies im Rahmen der normalen Beziehungen zu Menschen nicht gelang.

Die mediale Kontaktaufnahme hat sich durch das Internet völlig verändert: Man muss nicht Tage warten, bis ein Brief verschickt und beantwortet ist. Die Kontaktaufnahme funktioniert praktisch in Echtzeit – vorausgesetzt, das eigene Profil stößt auf Interesse. Man ist beruflich in einer fremden Stadt und hat Lust, sich mit jemandem zu treffen, sei es zum Essen, zu Gesprächen oder zum unverbindlichen Sex? Kein Problem, Tinder macht es möglich.

Der Markt solcher Kontaktportale ist inzwischen riesengroß, immer mehr Menschen nutzen Flirt-Apps, und Tinder steht in der Beliebtheit an der Spitze, sagt Henning Wiechers vom Singlebörsenvergleich (vgl. Breitband – Deutschlandfunk Kultur 2022). Er unterscheidet drei Arten von Partnervermittlungen: Die klassischen Kontaktanzeigen funktionieren so ähnlich wie AutoScout24 oder ImmoScout24. Viele Menschen stellen eine Anzeige ins Netz, man kann sich gegenseitig anschreiben und Kontakt aufnehmen – gegen eine monatliche Flatrate-Gebühr von 30 bis 50 Euro.

Dann gibt es zweitens die Partnervermittlungsbörsen, bei denen man genau beschreibt, wer man ist und wen man gerne treffen möchte. Bei Parship oder ElitePartner wird von den Teilnehmer*innen auf der Grundlage eines ausführlichen Fragebogens ein psychologisches Persönlichkeitsprofil erstellt, und der Algorithmus errechnet, wer zu wem passt und in wen man sich verlieben könnte – bei Parship, so jedenfalls heißt es in der Werbung, geschieht das alle 11 Minuten erfolgreich. „Parship stiftet heute jede 15. Ehe und ist perfekt für Singles über 25 Jahre. Seit Corona Kennenlernen auch per Videochat möglich.“ (Wiechers o. J.) Bei diesen Portalen erhält man zwar weniger Kontakte, dafür aber solche, die eher zu den eigenen Erwartungen passen. Der Vorteil solcher Portale: Sie sind in der Regel sehr teuer und werden deshalb eher von Menschen genutzt, die ernsthaft an einer Partnersuche interessiert sind und nicht nur einfach mal flirten möchten.

Mit der schnellen Verbreitung des Smartphones kamen dann drittens die Flirt-Apps hinzu, die eine Umfeldsuche erlauben, sodass man bei Interesse noch am gleichen Abend ein Treffen arrangieren kann. Um eine solche App handelt es sich auch bei Tinder. Anhand eines Textprofils mit Bild entscheidet man spontan, ob man Lust auf eine Kontaktaufnahme hat oder nicht – nach links heißt, das Profil ist weniger interessant, wischt man nach rechts, hat man ein Match – vorausgesetzt, das Gegenüber wischt das eigene Profil in die gleiche Richtung. Diese Portale sind in der Regel kostenlos und werden vor allem von Singles in den Zwanzigern benutzt. Wiechers vergleicht solche Portale mit einem Fußballstadion, in dem man auf sehr viele Menschen trifft, von denen einen die meisten gar nicht interessieren. Mittels gebührenpflichtiger Premiumversionen kann man jedoch die Wahrscheinlichkeit, anderen aufzufallen, erhöhen (vgl. Breitband – Deutschlandfunk Kultur 2022).

Andrea Newerla, Professorin für Soziologie an der Universität Salzburg, meint, vor allem das Smartphone habe die Partnersuche erheblich verändert: Man braucht sich nicht mehr an einen Computer zu setzen oder eine Zeitung in die Hand zu nehmen, um Kontakte zu knüpfen. Man kann bei jeder Gelegenheit – ob in der S-Bahn, im Bett oder beim Warten auf den Zug – Menschen anschreiben und kennenlernen. Durch das Wischen kann man sich noch vor Kontaktaufnahme vergewissern, dass beide an einem Kennenlernen interessiert sind. Newerla weist darauf hin, dass wir immer noch in einer retronormativen Welt leben und uns eine romantische Liebesbeziehung vorstellen, wenn wir von Partnersuche sprechen.

Inzwischen gibt es aber eine Vielzahl von Partnerwünschen, bei denen es nur um Freundschaft oder um kurzfristige sexuelle Begegnungen geht. Das führt bei manchen Nutzer*innen zu Problemen, weil sie nicht das finden, was sie suchen oder weil sie missverstanden werden. Alles geht sehr schnell und die Zeit des Kennenlernens fehlt häufig. Weil es sehr leicht ist, weitere Kontakte zu finden, daten viele Menschen gleichzeitig mehrere Personen, was für viele, die an einer ernsthaften Beziehung und an Treue interessiert sind, zur Belastung wird.

Der größte Vorteil solcher Apps liegt wohl darin, dass Menschen ohne Scheu ihre spezifischen Bedürfnisse formulieren können. Deshalb gibt es viele Apps, die im queeren Raum entstanden sind: je kleiner der Kreis von Menschen ist, die man sucht, desto wichtiger ist es, ihn durch den Kreis der Nutzer*innen im Netz zu vergrößern – das erhöht die Wahrscheinlichkeit, Gleichgesinnte zu finden. Und außerdem kann man sicher sein, dass man auf Menschen trifft, die ebenfalls an diesem Kontakt interessiert sind. Man muss nicht befürchten, allein deshalb abgewiesen zu werden, weil Menschen, die einen interessieren, schon in einer Beziehung leben.
 

Quellen:

Breitband – Deutschlandfunk Kultur: Zehn Jahre Tinder – Wisch und weg. In: Spotify, Podcast-Folge, 24.09.2022. Abrufbar unter: https://open.spotify.com/

Meyer, W.: 9. Juli 1732 – Erste Heiratsanzeige in einer deutschen Zeitung. In: wdr.de, Sendung WDR ZeitZeichen, 09.07.2022. Abrufbar unter: www1.wdr.de

Wiechers, H.: Die besten Singlebörsen im Vergleich. In: Singlebörsen-Vergleich.de. Abrufbar unter: https://www.singleboersen-vergleich.de/
 

Weiterlesen:

> Tinder, das Selbst und die anderen 
Jana Degen in tv diskurs 94, 4/2020, S. 30 – 33

> Die Geschichte der Heirats- und Kontaktanzeigen. Von „Spätere Heirat nicht ausgeschlossen“ bis zum One-Night-Stand
Joachim von Gottberg in mediendiskurs.online, 04.08.2022

> Erst swipen, dann matchen
Eva Maria Lütticke in tv diskurs 94, 4/2020, S. 34 – 39

> Partnerwahl 3.0
tv diskurs 94, 4/2020