Medien und der Wandel von Ethik, Werten und Normen
Maßstäbe entstehen im Diskurs
Der Philosoph Johann Gottfried Herder bezeichnete den Menschen in Bezug auf seine Ethik als den „Freigelassenen der Schöpfung“ (Herder 1993, S. 20): „Normen, Werte und Regeln, so kann man vereinfacht sagen, ersetzen in der evolutionären Entwicklung die Instinkte. Instinkte sind das Ergebnis einer relativ rigiden Reiz-Reaktions-Bindung. Regeln, Normen und Werte ermöglichen hingegen Entscheidungen. Kodiert sind sie in dem, was wir ‚Kultur‘ nennen. Wissenschaftlich ausgedrückt ist Kultur somit ein extrasomatischer Informationsspeicher.“ (Grau 2007, S. 38) Diese Freiheit ermöglicht es dem Menschen, sich immer wieder neu an Umweltveränderungen anzupassen und so in fast allen Gegenden der Erde zu überleben.
Religionen als sinngebendes Konzept
Als Quelle dieser ethischen Systeme gelten die Weltreligionen. Sie geben Antworten auf die wesentlichen menschlichen Fragen: Woher kommen wir? Was wird aus uns nach dem Tod? Worin besteht der Lebenssinn? Welche Regeln müssen wir beachten?
„Religion ist unvermeidbar. Deshalb gibt es keine menschliche Kultur ohne sie. Denn Religion stiftet kollektive Identität, sie legitimiert soziale Ordnungen und vermittelt Sinn. Selbst in Deutschland – nach offizieller Lesart einer der religiös unmusikalischsten Landstriche dieser Erde – gab es daher nie wirklich ein Verschwinden der Religion, sondern deren Transformation zu einem Kulturchristentum. Und das ist kein Verlust. Denn es sind letztlich die religiösen Traditionen und ihre kulturelle Prägekraft, die den Menschen Identität, Halt und Orientierung geben.“ (Grau 2017)
Spätestens mit der Aufklärung und dem Kategorischen Imperativ Kants, der in seiner Schrift: Was ist Aufklärung? den „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant 1784, S. 481) forderte und eine ethische Formel als Grundlage für eine menschliche Ethik ohne Anhängigkeit von Gott schuf, begann die Säkularisierung: Die Religion und die Kirche als deren Vermittlungsinstitution auf Erden verloren an Macht und Bedeutung. Die Missbrauchsskandale der letzten Jahrzehnte und die mangelnde Fähigkeit der Kirche, diese aufzuarbeiten und sich zu modernisieren, beschleunigten diesen Prozess: Aktuell sind weniger als 50 % der Deutschen Mitglied einer der beiden großen Kirchen (vgl. SPIEGEL 2022).
Allerdings: Unsere Kultur steht in der christlicher Tradition, die Zehn Gebote sind in unserer Verfassung und in unseren Gesetzen klar erkennbar.
Dabei sind wir inzwischen freier, fundamentale christliche Gebote hinter uns zu lassen und beispielsweise die Bindung der Ehe an Mann und Frau aufzugeben. Praktizierte Empfängnisverhütung, das Recht auf selbstbestimmtes Sterben oder die Diskussion über aktive Sterbehilfe zeigen: Werte und Normen werden offener, das Selbstbestimmungsrecht der Menschen und die Gewalt, die laut weltlicher Verfassung vom Volke ausgeht, geben dem Staat die Kompetenz, andere als die von den Kirchen gesetzten Werte zu vertreten und die Gesetze in demokratischen Verfahren neu zu fassen. Die neuen Werte heißen Vielfalt und Selbstbestimmung, der gesellschaftliche Maßstab ist das Mehrheitsprinzip.
Menschenwürde und die Ethik des Grundgesetzes
Um ein Wiederaufleben der menschenverachtenden Diktatur des Nationalsozialismus zu verhindern, wurde in Artikel 1 des Grundgesetzes (GG) die Achtung der Menschenwürde zum Grundprinzip der Verfassung erklärt. Daran müssen sich alle anderen Grundrechte orientieren. Die Menschenwürde gilt somit auch als oberstes Prinzip der Medienethik. Aber was bedeutet „Menschenwürde“?
„Die Menschenwürde ist tatsächlich einer positiven Definition nicht zugänglich. Jede Definition dessen, was den Menschen ausmacht, ist sehr problematisch, weil sich dann bestimmte Menschen aus dem Menschsein heraus definieren ließen. Wenn Sie sagen, dass die Menschenwürde dem Menschen als vernunftbegabtem Wesen zusteht, dann stellt sich die Frage, was beispielsweise mit schwer kranken oder geistig behinderten Menschen ist. Für sie gilt die Menschenwürde auch. Das Verfassungsgericht hat deshalb zu Recht versucht, die Menschenwürde negativ einzugrenzen – in der so genannten Objektformel: Der Mensch darf nicht zum Objekt staatlichen Handelns gemacht werden. Er muss sich selbst bestimmen dürfen, der Staat darf ihn nicht definieren, er darf ihn nicht behandeln wie eine Sache.“ (Dörr 2004, S. 44)
So sieht es auch Peter Dabrock, bis 2020 Vorsitzender des Deutschen Ethikrates, und führt die Menschenwürde auf das Christentum zurück: „Mein Verständnis von Menschenwürde ist vor allem die Verbindung zwischen Freiheit und Selbstbestimmung auf der einen Seite, aber auch Sensibilität für Inklusion auf der anderen Seite. Niemand darf hinausdefiniert werden. Das hängt sicherlich mit meinem christlichen Kontext zusammen. Natürlich will ich anderen, die sich als Nichtchristen verstehen, ihre Vorstellung nicht absprechen. Aus meinem christlichen Verständnis heraus ist es jedenfalls ein ganz prägendes Element, immer darauf zu achten, dass wirklich alle in diese Menschenwürde miteinbezogen sind, so unterschiedlich man diesen Begriff auch interpretieren mag.“ (Dabrock 2015, S. 29)
Massenmedien und der zunehmende Trend zur Toleranz
Massenmedien spielen für den ethischen Diskurs in Demokratien eine existenzielle Rolle.
„Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Medien.“ (Luhmann 1996, S. 9)
Medien transportieren immer auch Wertvorstellungen: „Der Wertebegriff bezieht sich erst einmal nur auf eine Struktur. Er ist nicht gebunden an bestimmte Inhalte. […] Aber ich kann die Meinung nicht teilen, dass wir ein Zuwenig an Werten haben. Ich würde sogar das Gegenteil behaupten, wir haben sehr viele Werte. Gerade die Medien stellen uns die gesamten Werte aller Kulturen dieser Welt zur Verfügung. Sie machen uns damit bekannt, ohne sie uns aufzudrängen. Jeder kann selbst entscheiden, ob er ihnen nachgehen oder ihnen anhängen will. Jeder Einzelne ist genötigt, sich dazu zu verhalten und für sich die geeigneten Werte zu finden. Das funktioniert allerdings nicht so, wie man sich im Supermarkt für ein Waschpulver entscheidet, sondern man muss von einem Ziel oder einem Wert wirklich ergriffen sein, damit es für einen selbst zum Wert wird, an dem man sein Handeln ausrichtet.“ (Reichertz 2007, S. 50)
Gesetzliche Beschränkungen der Medienfreiheit setzt neben dem Jugendschutz auch das Medienstrafrecht: Verboten sind Volksverhetzung (§ 130 Strafgesetzbuch [StGB]), das Zeigen nationalsozialistischer Embleme (§ 86a Abs. 1 StGB), die Verbreitung von Pornografie an Jugendliche (§ 184 Abs. 1 StGB) und von pornografischen Inhalten mit Tieren, Kindern oder mit Gewalt (§§ 184a, 184b StGB) sowie gewaltverherrlichende Medien (§ 131 StGB).
Obwohl die Grundwerte unserer Verfassung seit 1949 gelten, haben sich die Vorstellungen darüber, was als jugendgefährdend gelten kann, sehr verändert. „Was machen Jugendliche eigentlich mit Medien? Diese Perspektive steht in den 1950er-Jahren noch im Schatten einer anderen Frage, die den Jugendmedienschutz zu dieser Zeit umtrieb: Wie vermögen die Medieninhalte auf Heranwachsende und ihre Entwicklung ‚einzuwirken‘? Die frühen Indizierungsentscheidungen der Bundesprüfstelle spiegeln hier eine Sichtweise auf Jugend wider, die von der Vorstellung leicht zu beeinflussender, passiver Rezipienten geprägt ist. Regelmäßig werden Jugendliche als (lebens‑)unerfahren, urteilsunsicher, unkritisch und ohne gefestigte moralische Widerstandskraft beschrieben, deren Weltbild, Werte- und Rechtsvorstellungen sich noch aufbauen müssen. Ob Kriminalroman, Westernheft oder Tarzan-Comic: Eine zentrale Sorge, die von den Jugendschützerinnen und Jugendschützern bei den Verhandlungen dieser ersten Prüfobjekte immer wieder zum Ausdruck gebracht wird, ist die Befürchtung, dass sich die ‚unreifen Jugendlichen‘ in gewissen Schilderungen ‚nicht mehr zurechtfinden‘ und die dort beschriebenen Inhalte nicht verkraften können“ (Hajok/Hildebrandt 2018, S. 69).
Inzwischen steht bei der Bundesprüfstelle die Indizierung nicht mehr allein im Zentrum ihrer Tätigkeit. Mit dem Jugendschutzgesetz von 2021 wurde sie zur Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz (BzKJ) ausgebaut. Ziel ist es, eine Art Supervision über die Kriterien und Bewertungspraxis des Jugendschutzes zu leisten.
Die Haltung zur Sexualität im Jugendschutz hat sich inzwischen ebenfalls stark verändert, das zeigt die Spruchpraxis des Jugendschutzes zu Inhalten, in denen gleichgeschlechtliche Beziehungen dargestellt werden. Diese wurden lange Zeit abgelehnt, weil man befürchtete, dass Jugendliche dadurch zu Homosexualität animiert und verführt werden könnten. Inzwischen werden eher Inhalte abgelehnt, wenn sie geeignet sind, gleichgeschlechtliche Beziehungen zu diskriminieren.
Die Medien, vor allem Spielfilme, erhöhen durch emotionale Einblicke in Menschen unterschiedlicher Herkunft oder unterschiedlicher sexueller Neigung Mitgefühl und Toleranz. Ein konkretes Schicksal eignet sich mehr zur Identifikation und Akzeptanz als anonyme Gruppen. Damit das gelingt, muss aber auch das gesellschaftliche Umfeld solche Filme zulassen:
„Medien führen nicht grundsätzlich zu Toleranz gegenüber sexuellen Orientierungen oder sexuellen Verhaltensweisen. Wie die Beispiele in manchen arabischen Ländern [oder in Russland, Anm. J.v.G.] zeigen, können staatlich gelenkte Medien genau das Gegenteil bewirken. Auch freie Medien setzen sich nur dann für Toleranz in Fragen der Sexualität ein, wenn die strengen sexualethischen Normen und die daraus resultierenden Vorschriften in der Gesellschaft ohnehin an Akzeptanz verlieren.“ (Gottberg 2015, S. 51)
Die Medien haben aber auch ein kommerzielles Interesse an einem toleranten Publikum: „Die privaten Rundfunkanbieter mussten während ihres Aufbaus Mitte der 1980er-Jahre daran interessiert sein, möglichst viele Zuschauer an sich zu binden oder möglichst viele Zielgruppen anzusprechen, um eine ökonomische Selbstständigkeit gegenüber den längst etablierten öffentlich-rechtlichen Sendern zu erreichen. Sie mussten und müssen für jeden etwas bieten und können niemanden verprellen.“ (Reichertz 2015, S. 41)
Medienethik und Gewaltdarstellungen: Die Gefahr liegt in der Wirkung
Aufgrund der Meinungsfreiheit in Artikel 5 Absatz 1 GG gibt es kein Darstellungsverbot bestimmter Vorgänge oder Verhaltensweisen. Wie oben bereits erwähnt, können Jugendschutzgesetze diese Freiheit jedoch einschränken: nämlich wenn durch mediale Inhalte bei der Rezeption Meinungs- oder Verhaltensveränderungen zu befürchten sind, die sich gegen unsere gesellschaftlichen Werte richten, wenn etwa das nach dem Grundgesetz als ethischer Maßstab geltende Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit verletzt wird.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob Gewaltdarstellungen die Anwendung oder die Akzeptanz von realer Gewalt bei den Rezipienten erhöhen können. Schon bevor die Fachzeitschrift tv diskurs 1997 gegründet wurde, war diese Befürchtung in Politik, Medien und Öffentlichkeit ein ständiges Thema, vor allem wurde diese Gefahr bei Jugendlichen gesehen, die regelmäßig Kriminal-, Action-, Splatter- oder Horrorfilme anschauten (vgl. z. B. Angela Merkel in RTL 1992). Die Medienwirkungsforschung lieferte allerdings keine eindeutigen Ergebnisse und war widersprüchlich. Der Augsburger Pädagogikprofessor Werner Glogauer behauptete, dass etwa 10 % der Jugendkriminalität auf den Konsum gewaltdarstellender Filme zurückgehe (vgl. Glogauer 2002).
Der Psychologe Herbert Selg stellte in tv diskurs die unterschiedlichen Wirkungstheorien vor. Das Problem: Sie widersprechen sich gegenseitig. Während die Habitualisierungsthese vermutet, dass regelmäßige Gewaltrezeption einen Gewohnheitseffekt und damit eine höhere Akzeptanz gegenüber Gewalt erzeugt, geht die Inhibitionsthese vom Gegenteil aus: Nach ihr haben Jugendliche die gewaltablehnende Haltung unserer Gesellschaft verinnerlicht, die dargestellte Gewalt wird als unangenehm empfunden und bestärkt so diese ablehnende Haltung gegenüber Gewalt.
Ein interessierter Laie, der auf solche Listen von Hypothesen und Theorien stößt und die Quellen für kompetent hält, darf wohl denken, daß in den zuständigen Wissenschaften geradezu eine pathologische Verwirrung herrsche; er muß sich mit Schaudern abwenden. Wie kommt man aus diesem Wust von Hypotheschen und Theoriechen heraus?“ (Selg 1997, S. 52)
Der Kommunikationswissenschaftler Jürgen Grimm differenziert aufgrund seiner Untersuchungen die Wirkung nach der Art der Gewaltdarstellung: Er geht davon aus, dass wir mediale Gewalt aus der Perspektive der Opfer rezipieren. Harte Gewaltdarstellungen, die die Folgen der Gewalt für die Opfer deutlich zeigen und für die Zuschauer schwer zu ertragen sind, erzeugen eher einen aggressionsreduzierenden Effekt: Bei den Zuschauern entsteht Empathie für die Opfer, man will vermeiden, in eine vergleichbare Situation zu geraten und geht Gewalt aus dem Weg (vgl. Grimm 1999). Beispielsweise führen die extrem brutalen Bilder aus dem Ukraine-Krieg zu einer Verurteilung der Aggressoren und nicht zu einer Akzeptanz der gezeigten Gewalt. Dagegen können leicht zu ertragende Gewaltdarstellungen – hier sind die detaillierten Folgen der Gewalt nicht zu sehen – aggressionsfördernd wirken, weil sie wenige negative Emotionen erzeugen. Eine Aggressionssteigerung aber kann auch eintreten, wenn Gewalt moralisch gerechtfertigt wird, beispielsweise wenn Gewalt gegen brutale Verbrecher angewendet wird:
Die Problematik des Robespierre-Affekts besteht darin, daß herkömmliche Verfahren einer moralisch motivierten Aggressionshemmung versagen, da die Aggression selbst moralisch eskamotiert auftritt und sich durch Opfererfahrungen legitimiert.“ (Grimm 1998, S. 24, H. i. O.)
Darstellung von Sexualität mit stimulierender Absicht
Sexuell stimulierende Bilder sind bei vielen Menschen mit Scham und Schuldgefühlen besetzt. Die Darstellung von Nacktheit oder gar des Geschlechtsverkehrs ist in unserer Kultur traditionell mit Tabus belegt: „Tabus haben oft mit Anstand oder Scham zu tun. […] Wenn das Kleinkind anfängt, auch über ein bestimmtes Alter hinaus, seine Genitalien zu berühren, reagieren die Erziehenden nicht diskursiv. Dem Kind wird nicht erklärt, warum man das nicht macht, sondern die Reaktion ist: ‚Pfui, das macht man nicht!‘ Oder: ‚Lass das sein! Was sollen die Leute von dir denken!‘ Das Kind ist in dem Moment der Tabubrecher, der selbst tabuisiert und somit negativ markiert und ausgegrenzt wird. Auf diesem Weg erlernt es das gewünschte Verhalten äußerst effektiv, indem die Grenze internalisiert wird. Das Kind wird so etwas nicht mehr tun.“ (Schröder 2010, S. 26) Gleichzeitig erzeugt die visuelle Stimulation hohe Lustgefühle, die aber durch die Tabuisierung immer auch mit Schuldgefühlen verbunden sind. Dadurch erzeugen stimulierende Darstellungen oder Berichte, in denen sexuelle Tabus übertreten werden, einerseits immer öffentliches Interesse und garantieren hohe Einschaltquoten, andererseits führen sie aber häufig auch zu breiter öffentlicher Kritik.
Daher ist die Art und Weise, wie Sexualität vermittelt wird, eines der zentralen Themen im Jugendschutz – und damit auch in tv diskurs. Liegt bei der Verletzung des tabubedingten Schamgefühls einiger Menschen schon die Übertretung einer ethischen Norm vor, die ein Verbot rechtfertigt? Das wird im Strafrecht so gesehen: In § 184 StGB gibt es einen Konfrontationsschutz – bestimmte Verbreitungswege von Pornografie, beispielsweise über das Kino und das Fernsehen, werden verboten, damit Menschen nicht ungewollt mit Pornografie konfrontiert werden. Bei Kindern und Jugendlichen, die in Bezug auf Sexualität selten eigene Erfahrungen haben, ist das Interessen sowohl an Informationen als auch an Stimulation relativ hoch. „Wie bereits angesprochen, dient § 184 StGB gemäß seinem heutigen Zuschnitt als ‚Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung‘ […] in erster Linie dem (Kinder- und) Jugendschutz, daneben aber auch […] dem Schutz Erwachsener vor ungewollter Konfrontation mit Pornografie” (Heinrich 2016, S. 136, H. i. O.).
Auch im Jugendschutz wird argumentiert, die Wirkung ausschließlich an sexueller Lust orientierten Darstellungen könnten einen Eingriff in die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ (Art. 2 Abs. 1 GG) darstellen: Die Stimulanz ist derartig dominierend, dass sich der jugendliche Rezipient nicht mehr frei für eine verantwortungsvolle Partnerschaft und für die Integration der Sexualität in seine Persönlichkeit entscheiden kann. Gemäß § 4 Abs. 2 Ziff. 1 Jugendmedienschutzstaatsvertrag (JMStV) ist daher Pornografie im Fernsehen verboten, im Internet darf sie in geschlossenen Benutzergruppen angeboten werden, die sicherstellen müssen, dass Jugendliche keinen Zutritt haben. Pornografie ist aber im Internet erhältlich, auch in deutscher Sprache und meistens kostenlos. Pornografische Filme sind daher fast jedem Jugendlichen bekannt. Die Landesmedienanstalten bemühen sich seit Langem, dagegen vorzugehen (vgl. Gottberg 2022).
Schon immer wurde durch sexuelle Darstellungen eine Übersexualisierung und eine Verfrühung des ersten Geschlechtsverkehrs befürchtet.
Die meisten Entscheidungen der BPjS und der FSK gingen […] von der Befürchtung aus, dass durch die Überbewertung des Sexuellen in den Medien Pubertierende dazu verleitet werden könnten, sexuelle Beziehungen in einem Alter einzugehen, in dem sie weder psychisch noch körperlich dazu bereit sind.“ (Gottberg 2001, S. 62)
Noch Anfang der 2000er-Jahre war angesichts der Zunahme sexuell stimulierender Bilder in den Medien von einer „Pornografisierung von Gesellschaft“ die Rede (vgl. Schuegraf/Tillmann 2012). Aber im Gegensatz zur Pornografie sucht man in Beziehungen nicht nur die sexuelle Stimulanz, sondern auch Schutz, Treue, Verbindlichkeit und gegenseitige Verantwortung.
Gerade wenn man in der Pornografie einen Menschen sympathisch findet, ist die Vorstellung von beliebigem und austauschbarem Geschlechtsverkehr für die meisten Jugendlichen kaum auszuhalten. Daher möchten sie in ihrem realen Leben keinesfalls eine Partnerin oder einen Partner haben, der sich so verhält, wie die Darsteller in pornografischen Filmen. „Das, was ‚sexuelle Revolution‘ genannt wurde, bestand also hinsichtlich des Verhaltens darin, etwa drei Jahre früher mit Verabredungen, Küssen, Petting und Geschlechtsverkehr zu beginnen. Die tradierten Wertvorstellungen wurden jedoch nicht in Frage gestellt. Liebe, Treue, Ehe und Familie bestimmten weiterhin die moralischen Vorstellungen der jungen Leute. Sie interpretierten sie aber nicht so eng und vor allem nicht so männerzentriert wie die Generationen davor. Statt einer festen Beziehung vor der Ehe plädierten sie für mehrere Liebesbeziehungen mit gegenseitiger Treue, so dass wir damals den Standard ‚passagere‘ bzw. ‚serielle Monogamie vor der Ehe‘ diagnostizierten. Wichtig ist, dass damals viele Jugendliche Sexualität als lustvoll und beglückend erlebten und nicht mehr so stark wie ihre Eltern unter Ängsten und Schuldgefühlen litten.“ (Sigusch 2001, S. 40)
Dass der Konsum sexueller Medieninhalte zu einer unverbindlichen Sexualität führt, lässt sich auch durch andere empirische Studien nicht belegen. Im Gegenteil: „Während sexuelle Aktivitäten unter den 14-Jährigen insgesamt mit durchschnittlich vier Prozent noch die Ausnahme sind, hat im Alter von 17 Jahren mehr als die Hälfte Geschlechtsverkehrerfahrung. Junge Frauen ohne Migrationsgeschichte haben im Alter von 17 Jahren im Durchschnitt zu knapp 70 Prozent das ‚erste Mal‘ erlebt. Bei den gleichaltrigen Frauen mit ausländischen Wurzeln sind es 37 Prozent. Unter den 17-jährigen Jungen sind es 64 beziehungsweise 59 Prozent […] Gefragt nach den Gründen, warum sie noch nicht sexuell aktiv sind, geben Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren vor allem das Fehlen des/der Richtigen (55 Prozent) und/oder ein zu junges Alter (41 Prozent) an.“ (BZgA 2020)
Probleme werden allerdings bei der Darstellung von Sexualität in Verbindung mit Gewalt gesehen:
Wenn diese Skripte aufgrund bestimmter Erfahrungen in der Kindheit mit Gewalt, Ohnmacht, Selbst- und Fremdabwertung assoziiert sind, dann kann es natürlich sein, dass der Konsum von pornografischem Material eine bestimmte Funktion hat, nämlich möglicherweise, Wunden zu heilen, die früher entstanden sind. Das kann bedeuten, dass diese Menschen selbst gewalttätig werden oder sich gewalthaltiges Material anschauen“ (Sielert 2011, S. 45 f.).
Ähnlich sieht das Herbert Selg und schlägt vor: „Es erscheint aussichtslos, dem Wort ‚Pornographie‘ eine neutrale Bedeutung zuweisen zu wollen. Man sollte sich deshalb darauf verständigen, das Etikett ‚Pornographie‘ für Material zu reservieren, dessen Ablehnung relativ unstrittig ist“ (Selg 2003, S. 58), und meint damit vor allem die Darstellung von Sexualität mit Gewalt.
Allerdings gibt es in letzter Zeit vermehrt Hinweise auf medizinische und psychische Probleme in Zusammenhang mit Pornografie: „In Deutschland ist etwa eine halbe Million Menschen, insbesondere junge Männer, von Pornografiesucht betroffen. Die Dunkelziffer ist hoch, weil das Thema tabuisiert ist. Die Tendenz zum problematischen Konsum ist steigend und wird durch die Coronapandemie verstärkt. […] Laut einer US-amerikanischen Studie sind Personen, die häufig und regelmäßig Pornografie konsumieren, unzufriedener mit ihrer Sexualität als solche, die weniger und unregelmäßig konsumieren. Viele finden Sexualität, die über Pornografie ausgelebt wird, weniger kompliziert als mit einem Partner oder einer Partnerin. Zudem sind sie oft nicht mehr fähig, sich auf einen echten Partner oder eine echte Partnerin empathisch einzulassen und herkömmliche partnerschaftliche Romantik und Sexualität zu leben.“ (Sonnenmoser 2021)
Reality-TV
Während im öffentlich rechtlichen Fernsehen lange Zeit vor allem Stars aus Film, Sport oder Politik auftraten, begannen die Talkshows der 1990er-Jahre im privaten Fernsehen damit, nahezu jeden oder jede als Gast in die Sendungen einzuladen. Dabei wurden Konflikte diskutiert, die sich meist jenseits der gesellschaftlichen Normalität bewegten: Frauen, die regelmäßig in Swingerclubs mit 50 Männern verkehrten, ungewöhnliche Sexualpraktiken wie Sexsklaven oder erwachsene Windelträger, Brustvergrößerungen und Ähnliches wurde ausführlich und kontrovers behandelt. Der Diskussionsstil war aggressiv und vulgär, die Moderation bemühte sich, immer noch Öl aufs Feuer zu gießen. Befürchtet wurde, dass Jugendliche ein falsches Normalitätskonzept entwickeln könnten und dass sich die aggressive und vulgäre Sprache negativ auf den Kommunikationsstil der Rezipienten auswirken würde (ausführlich dazu: Richter 2022).
Am 28. Februar 2000 begann das Experiment Big Brother: 13 Personen wurden in einen Container gesperrt und rund um die Uhr gefilmt. Davon wurde eine Stunde zusammengeschnitten, die dann im Fernsehen gezeigt wurde. Die Kandidaten mussten Aufgaben lösen, aber vor allem standen ihre persönlichen Interaktionen und Beziehungen im Vordergrund. Intimität war praktisch öffentlich. Alle zwei Wochen wurde ein Bewohner des Containers vom Publikum herausgewählt. Am Ende blieb einer übrig, der als Gewinner 250.000 Euro erhielt (Wikipedia 2022).
Medienethische Bedenken und der Proteststurm, schon vor der Ausstrahlung, waren groß. Kurt Beck, zu der Zeit rheinland-pfälzischer Ministerpräsident und Vorsitzender der Rundfunkkommission, forderte von den Landesmedienanstalten, die Sendung schon vor der ersten Ausstrahlung wegen eines Verstoßes gegen die Menschenwürde zu verbieten:
Mit Big Brother ist eine neue Negativqualität in der Fernsehunterhaltung erreicht. Diese Programmformate stellen gesellschaftlich anerkannte Grundwerte in Frage und überschreiten damit eine Grenze, die jenseits von Geschmacksfragen liegt. In meiner politischen Verantwortung, die ich für die Menschen in diesem Land trage, halte ich Showformate, die bewusst auf Konfrontation in der Gruppe und auf die Zurschaustellung intimster menschlicher Bereiche angelegt sind, mit dem gesellschaftlichen Konsens über die Geltung elementarer Werte für unvereinbar.“ (Beck 2000, S. 42)
Angesichts des Live Charakters der Show war eine Vorlage bei der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) nicht möglich, deshalb ging es vor allem um die Beratung des Senders und den Diskurs über die in diesem Zusammenhang relevanten ethischen Fragen – zum Beispiel in tv diskurs. Die Umgangsweise der Kandidaten untereinander war freundlicher, als Kritiker vermutet hatten, übermäßige Konfrontationen blieben aus. Auch waren die Kandidaten, die aus der Sendung herausgewählt wurden, weiterhin Teil des Formats: Sie wurden außerhalb der Sendung als Insider zu den Ereignissen im Container befragt. Nach der ersten Ausstrahlung war die Diskussion bald verstummt. Es gab noch grundsätzliche Überlegungen, beispielsweise ob ein solches Experiment – also Menschen über einen längeren Zeitraum in Container zu sperren – ethisch vertretbar ist (mehr über den Diskurs in Weber 2000).
Scripted Reality
2012 folgte dann Scripted Reality: Ist es zu rechtfertigen, eine scheinbar dokumentarische Story über Menschen zu zeigen, die in Wirklichkeit gescriptet ist und von Laiendarstellern gespielt wird? Vor allem die von RTL 2 ausgestrahlte Serie X-Diaries – love, sun & fun, die Menschen in ihrem Urlaub mit der Kamera begleitete und im Wesentlichen bei alkoholreichen Partys und sexuellen Begegnungen zeigte, geriet in die Kritik. Nach Bußgeldandrohungen durch die Landesmedienanstalt entschloss sich der Sender, sämtliche Folgen der FSF vorzulegen. Nach einigen Bearbeitungen sowie nach verschiedenen Seminaren mit den „Skriptern“ legte sich die Aufregung. In verschiedenen Befragungen von Jugendlichen stellte sich heraus, dass diese durchaus in der Lage waren, zu erkennen, dass es sich bei den Folgen nicht um abgefilmte Realität handelte (vgl. Bergmann et al. 2012 und 2013).
Fazit
Unser Mediensystem fördert den Pluralismus, Vielfalt ist nicht nur geduldet, sondern gewünscht. Die Sozialen Medien haben die Kommunikation weitgehend der staatlichen Kontrolle entzogen und stellen die Medienregulierung vor fast unlösbare Aufgaben: Wie weit sollen die Freiheit oder der Datenschutz eingeschränkt werden, um Hassbotschaften, Mobbing und Ähnliches zu verhindern? Das Zusammenspiel zwischen gesellschaftlichen und medialen Entwicklungen in Bezug auf Wertvorstellungen, Moden sowie angenehmen und unangenehmen Verhaltensweisen stabilisiert auf der einen Seite wichtige Werte, führt auf der anderen aber auch zur Abschaffung von Verboten, wenn diese nicht mehr für wichtig oder gar für diskriminierend gehalten werden. Die Liberalisierung der Sexualethik und die Akzeptanz sexueller Vielfalt ist dafür ein aktuelles Beispiel. Der mediale Diskurs ist ein wichtiger Motor dieser Veränderungen und verdient daher weiterhin eine hohe Aufmerksamkeit.
Literatur:
Beck, K.: Position des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck zur Diskussion um „Big Brother“ und vergleichbare Sendeformate. In: tv diskurs, Ausgabe 13, 3/2000, S. 42 – 43. Abrufbar unter: mediendiskurs.online
Bergmann, A./Gottberg J. von/Schneider, J.: Scripted Reality auf dem Prüfstand. Teil 1: Inhaltsanalyse. Berlin 20212. Abrufbar unter: fsf.de
Bergmann, A./Gottberg J. von/Schneider, J.: Scripted Reality auf dem Prüfstand. Teil 2: Qualitative Befragung. Berlin 2013. Abrufbar unter: fsf.de
BzgA: Jugendsexualität. 9. Welle, zentrale Ergebnisse In: forschung.sexualaufklaerung.de, 03.12.2020. Abrufbar unter: www.forschung.sexualaufklaerung.de
Dabrock, P.: Die Menschenwürde als Zielvorstellung. Ethik aus der Perspektive unserer Verfassung. Joachim von Gottberg im Gespräch mit Peter Dabrock. In: tv diskurs, Ausgabe 71, 1/2015, S. 28 – 33. Abrufbar unter: mediendiskurs.online
Dörr, D.: Spielräume, plausible Prognosen und transparente Verfahren. Für den Schutz der Jugend und der Menschenwürde sind Werte abzuwägen. Joachim von Gottberg im Gespräch mit Dieter Dörr. In: tv diskurs, Ausgabe 28, 2/2004, S. 44 – 49. Abrufbar unter: mediendiskurs.online
Glogauer, W.: Gewalthaltige Medien machen Kinder und Jugendliche zu Tätern. In: D. Grossman/G. DeGaetano: Wer hat unseren Kindern das Töten beigebracht?:Ein Aufruf gegen Gewalt in Fernsehen, Film und Computerspielen. Hamburg 2002, S. 143 – 174
Gottberg, J. v.: Sexualität, Jugendschutz und der Wandel von Moralvorstellungen. In: tv diskurs, Ausgabe 15, 1/2001, S. 60 – 67. Abrufbar unter: mediendiskurs.online
Gottberg, J. v.: Ethik im Wandel. Sexuelle Toleranz und die Rolle der Medien. In: tv diskurs, Ausgabe 72, 2/2015, S. 46 – 51. Abrufbar unter: mediendiskurs.online
Gottberg, J. v.: KJM fordert Sperrung von illegalen Pornoportalen. In: mediendiskurs.online, 22.03.20022. Abrufbar unter: mediendiskurs.online
Grau, A.: Werte. In: tv diskurs, Ausgabe 39, 1/2007, S. 38 – 41. Abrufbar unter: mediendiskurs.online
Grau, A.: Christentum. Es gibt keine Kultur ohne Religion. In: Cicero, 23.12.2017. Abrufbar unter: www.cicero.de
Grimm, J.: Der Robespierre-Affekt. Nichtimitative Wege filmischer Aggressionsvermittlung. In: tv diskurs, Ausgabe 5, 2/1998, S. 18 – 29. Abrufbar unter: mediendiskurs.online
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Hajok, D./Hildebrandt, D.: Das veränderte Bild von Jugend im Jugendmedienschutz. Ein Streifzug durch 64 Jahre Indizierung von Medien. In: tv diskurs, Ausgabe 85, 3/2018, S. 68 – 73. Abrufbar unter: mediendiskurs.online
Heinrich, M.: Die Verbreitung von Pornografie gem. § 184 StGB – Teil 1. Beiträge zum Medienstrafrecht – Teil 2. In: Zeitschrift für das Juristische Studium, 2/2016, S. 132 – 147. Abrufbar unter: zjs-online.com
Herder, J. G.: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Stuttgart 1993 [Original 1772]
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KJM (Kommission für Jugendmedienschutz): Expertin: Konsum von Online-Pornografie ist für Kinder „eine Art von Missbrauch“. Psychologin warnt vor drastischen Auswirkungen von Porno-Konsum auf Minderjährige/Medienkompetenz allein nicht ausreichend. Pressemeldung 05/2022, 25.02.2022. Abrufbar unter: www.kjm-online.de
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Reichertz, J.: Toleranz liegt im ökonomischen Interesse der Medien Das Fernsehen bietet Einblicke in vielfältige Lebensumstände. In: tv diskurs, Ausgabe 72, 2/2015, S. 40 – 45. Abrufbar unter: mediendiskurs.online
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Sigusch, V.: Thrill der Treue. Über Alterswahn und Jugendsexualität. In: tv diskurs, Ausgabe 15, 1/2001, S. 38 – 45. Abrufbar unter: mediendiskurs.online
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